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Ottfried: Landwirt*innen blockieren mit ihren Traktoren Autobahnen, Anhänger*innen der „Letzte Generation“ kleben sich auf Straßen fest und „Stay Awake“ zieht jeden Montag durch Bamberg. Haben sich Protestformen über die Zeit radikalisiert?
Julian Polenz: Protest-Ereignisanalysen, die sich auf das Jahr 2022 beziehen, zeigen, dass Proteste insgesamt im Vergleich zu 2020 und 2021 nicht gewaltsamer geworden sind. Während der Corona-Krise hatte der Anteil gewaltsamer Proteste allerdings zugenommen. Das kann damit zusammenhängen, dass Protest nicht vollumfänglich möglich war und sich dadurch starke Spannungen aufgebaut haben. Mit Blick auf 2022 sehen wir, dass der Anteil an gewaltsamen Protesten wieder abgenommen hat und auf einem ähnlichen Niveau wie vor der Corona-Krise ist. Was wir beobachten können, ist, dass der Anteil an Protesten, bei denen ziviler Ungehorsam ausgeübt wird, zugenommen hat. Das muss man aber einschränken: Der Anteil an Menschen, der sich dieser Protestform anschließt, ist sehr gering. Sich zum Beispiel auf der Straße festzukleben, wird in der breiten Gesellschaft nicht als legitim angesehen. Deswegen würde ich sagen, dass sich Protest an sich nicht radikalisiert hat. Das Festkleben auf der Straße ist im Prinzip nichts anderes als eine moderne Art der Sitzblockade und die kennen wir schon aus der Antike. Das ist also keine neue Protestform, sondern eher ein klassisches Mittel, um seine Unzufriedenheit auszudrücken.
Was versteht man unter zivilem Ungehorsam?
Ziviler Ungehorsam ist an sich eine friedliche Form des Protests – zumindest, solange sie nicht gegen die körperliche Unversehrtheit anderer Menschen gerichtet ist. Das, was zivilen Ungehorsam attraktiv macht, ist der Normbruch. Wir sehen beispielsweise bei der “Letzten Generation“, dass ihre Aktionen große mediale Aufmerksamkeit auslösen – trotzdem ist keine breite gesellschaftliche Mobilisierung damit verbunden. Es schließen sich da nicht viele Menschen an. Mit Blick auf die Zahlen sehen wir, dass ziviler Ungehorsam vor allem im Kontext der Klimaproteste zugenommen hat. Da kann man einen klaren Anstieg verzeichnen. Die Anzahl der Menschen, die sich daran beteiligt, ist aber wirklich verschwindend gering. Im Fall der “Letzten Generation” sind es oft jeweils nur 20 bis 30 Personen.
Wie kommt es dazu, dass anfangs friedliche Demonstrationen außer Kontrolle geraten?
Gewaltsame Proteste und Demonstrationen sind eher die Ausnahme. Der Großteil der Proteste, die wir sehen, verläuft friedlich. Wenn es bei Protesten zu Gewalt kommt, kann das verschiedene Ursachen haben.
Der Einsatz von Gewalt kann eine Taktik sein
Der Einsatz von Gewalt kann eine Taktik sein, um den eigenen Protest sichtbar zu machen und mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen. Oft ist Gewalt aber nicht intendiert – weder von den Protestakteuren noch von Sicherheitsbehörden wie der Polizei – sondern sie entsteht oft spontan und situativ. Was wir in der Forschung sehen, ist, dass die Wahrscheinlichkeit für Gewalt und Protest dann steigt, wenn Protest zuvor in irgendeiner Form unterdrückt worden ist, zum Beispiel in autokratischen Regimen. Die Wahrscheinlichkeit für Gewalteinsatz steigt, auch wenn Protest schlecht oder wenig organisiert ist. Dann kann es dazu kommen, dass Gatekeeper, die innerhalb der Bewegung dafür sorgen, gewaltaffine Akteure im Vorfeld auszuschließen, fehlen. Das war zum Beispiel bei den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg der Fall. Die Proteste waren eher unkoordiniert. Beteiligt waren viele heterogene, zum Teil gewaltbereite Akteure, die sich untereinander nicht kannten. Dadurch wurde eine Dynamik in Gang gesetzt, bei der die Polizei harsch auf Gewalt reagiert hat.
Wie kommt es zu einer sozialen Bewegung oder einem Protest?
Protesten und sozialen Bewegungen liegen meistens soziale Konflikte zugrunde. Das heißt, es dass gibt in irgendeiner Form Spannungen. Die Protestmobilisierung basiert auf verschiedenen Teilprozessen. Zum einen müssen Ressourcen mobilisiert werden: zum Beispiel Geld, technisches Equipment oder technische Kommunikationsmittel, um sich zu vernetzen. Das ist grundlegend für einen Protest. Eine Bewegung muss auch versuchen, Resonanz für das eigene Framing herzustellen. Dabei geht es darum, Problemdeutungen an die Gesellschaft zu vermitteln und gleichzeitig Lösungsvorschläge in die Öffentlichkeit zu transportieren. Diese Forderungen und Lösungsvorschläge sollten von der Gesellschaft als legitim erachtet werden, damit eine Bewegung erfolgreich wird. Neben dem Framing spielt vor allem eine Rolle, ob eine soziale Bewegung es schafft, eine kollektive Identität – also ein Gemeinschaftsgefühl – zu erzeugen. Insgesamt müssen also viele unterschiedliche Faktoren zusammenwirken, damit eine Bewegung Erfolg hat.
Was wollen soziale Bewegungen erreichen?
Das Ziel ist, dass sich viele Menschen der Bewegung anschließen oder die Bewegung zumindest in irgendeiner Form Unterstützung in der Öffentlichkeit erfährt. In einer Demokratie ist das wichtig, weil es politisch darum geht, Mehrheiten zu organisieren. Je mehr Menschen sich einer Bewegung oder einem Protest anschließen, desto wahrscheinlicher wird es, die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger auf die Forderungen reagieren und politische Anpassungen vornehmen.
Wie entsteht ein Gemeinschaftsgefühl innerhalb sozialer Bewegungen?
Man kann das Entstehen einer kollektiven Identität auf drei Ebenen beobachten. Auf einer sachlichen Ebene müssen sich die Bewegungsakteure auf gemeinsame Werte, Ziele und Inhalte einigen. Auf einer sozialen Ebene muss geklärt werden, wer zur Bewegung gehört und wer nicht. Dadurch wird eine Abgrenzung von der Umwelt möglich. Für die Umwelt, zum Beispiel für die Politik oder die Medien, muss die Bewegung als eigenständiger Akteur wahrnehmbar sein. Sie sollte nicht nur als Masse loser Individuen erscheinen. “Fridays for Future“ wird beispielsweise als eigenständiger Akteur wahrgenommen. In zeitlicher Hinsicht geht es darum, dass eine Bewegung ein kollektives Gedächtnis ausbildet. In diesem kollektiven Gedächtnis wird der eigene Entstehungsprozess abgespeichert. Es entsteht also eine kollektiv geteilte Biografie der Bewegung.
Wie unterscheiden sich Demonstrationen, Proteste und soziale Bewegungen?
Soziale Bewegungen werden in der Forschung als mobilisierte Netzwerke von Individuen, Organisationen und Gruppen definiert. Diese Netzwerke besitzen eine kollektive Identität und versuchen, mit Mitteln des Protests sozialen Wandel herbeizuführen, rückgängig zu machen oder zu verhindern. Protest ist die Handlungsform einer sozialen Bewegung. Eine Demonstration ist wiederum eine konkrete Protestform, die gängigste in einer Demokratie. Es gibt aber noch andere denkbare Protestformen. Wenn wir uns beispielsweise die “Letzte Generation“ anschauen, sehen wir Sitzblockaden, das Festkleben auf Straßen, Petitionen und so weiter.
Julian Polenz ist seit Dezember 2019 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologische Theorie an der Uni Bamberg tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der politischen Soziologie, sozialen Konflikttheorien und der Raumsoziologie. In seiner Doktorarbeit untersucht er, wie auf regionaler Ebene AfD-Milieus entstehen und wie räumliche Bedingungen dazu führen, dass die AfD Wähler*innen mobilisieren kann.
Mittlerweile gibt es professionelle Protestunternehmer*innen. Wie kann man sich das vorstellen?
Wir sehen schon in der Definition von sozialen Bewegungen, dass daran nicht nur Individuen beteiligt sind, sondern auch Organisationen. Dazu gehören zum Beispiel NGOs, die darauf spezialisiert sind, Protest zu organisieren. Sie können darauf ausgerichtet sein, Equipment bereitzustellen oder Menschen miteinander zu vernetzen und sind somit an der Protestorganisation entscheidend beteiligt.
Sind soziale Bewegungen Ausdruck von fehlendem Vertrauen in die Politik?
Ich würde nicht sagen, dass es grundsätzlich fehlendes Vertrauen ist. Sozialen Bewegungen geht es oft darum, auf Probleme aufmerksam zu machen, die der Politik vielleicht noch gar nicht so klar sind. Ich denke schon, dass grundlegend Vertrauen besteht, dass politische Akteure diese Probleme aufgreifen und entsprechend bearbeiten können. Es geht eher darum, die Politik dahin zu bewegen, sich den Problemen anzunehmen.
Wie wahrscheinlich ist es, dass sich aus sozialen Bewegungen Parteien herausbilden?
Die Grünen oder die SPD beispielsweise haben ihren Ursprung in sozialen Bewegungen – in der Umwelt- beziehungsweise Arbeiterbewegung. Es ist aber keinesfalls zwingend, dass eine soziale Bewegung in eine Partei übergeht. Wir haben es in Deutschland mit einem relativ gefestigten Parteiensystem zu tun. In den letzten Jahren waren soziale Bewegungen vor allem Impulsgeber für Parteien. Sie haben die öffentliche Meinung beeinflusst, sodass mehr Aufmerksamkeit auf Klimaschutz oder Gleichberechtigung gelenkt wurde. Insofern gibt es keinen direkten Zusammenhang zwischen sozialen Bewegungen und der Entstehung von Parteien. Das liegt auch daran, dass das unterschiedliche Akteurstypen sind: Eine Partei ist eine formale Organisation, die hierarchisch gegliedert ist und eine Satzung hat. Es gibt klare Kriterien der Zugehörigkeit durch formale Mitgliedschaft. Man muss einen Aufnahmeantrag stellen. Die Zutrittsbarrieren sind bei Parteien größer als bei sozialen Bewegungen. Auch die Anforderungen an eine Parteigründung sind sehr hoch, allein, was den Organisationsaufwand betrifft. Der Übergang von einer sozialen Bewegung zu einer Partei ist also nicht so einfach möglich. Zudem gibt es auch überparteiliche soziale Bewegungen, die nicht zwingend einer bestimmten politischen Strömung zuzurechnen sind, sondern sich für allgemeinere Themen einsetzen, die fast alle demokratischen Parteien betreffen.
Können soziale Bewegungen gefährlich für die Demokratie werden oder sind sie notwendig für ein funktionierendes demokratisches System?
Sowohl als auch. Protest und soziale Bewegungen sind einerseits wichtig für die Demokratie. In der soziologischen Konfliktforschung herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass soziale Konflikte, Proteste und soziale Bewegungen produktiv sein können. Dafür gibt es einige Beispiele, etwa die Frauenbewegung oder die Umweltbewegung, die sich für Gleichberechtigung, Menschenrechte und Umweltschutz eingesetzt und dadurch auch für demokratischen Fortschritt gesorgt haben. Protest erfüllt auch – wenn man das mit dem amerikanischen Soziologen Lewis Coser beschreiben will – eine Ventilfunktion und dient dem Spannungsabbau. Auf der anderen Seite sehen wir aber schon in der Definition, dass sich nicht jede soziale Bewegung für gesellschaftlichen Fortschritt, Modernisierung oder Demokratie einsetzt. Es gibt Bewegungen aus dem extremistischen Spektrum, die sich entweder ganz konkret gegen die Demokratie als Ganzes richten und eine andere politische Ordnung etablieren wollen oder deren Ziele zumindest mit einigen Teilen unserer Verfassung unvereinbar sind. Im rechtsextremen Spektrum trifft das zum Beispiel auf die “Identitäre Bewegung“ zu. Sie verstößt mit dem Propagieren des Ethnopluralismus gegen die Menschenrechte (Anmerkung der Redaktion: Ethnopluralismus meint ein Konzept der neuen Rechten, nach dem es eine kulturelle Homogenität in Gesellschaften geben soll. Dabei wird zwischen “Einheimischen“ und “Fremden“ unterschieden, wodurch es zu Fremdenhass kommt.). Insofern können soziale Bewegungen eine Gefahr für die Demokratie werden. Gesellschaften müssen dann Schutzmechanismen entwickeln, um solche Gefahren abwenden zu können.
Auch die Zivilgesellschaft ist hier gefordert und muss sich gegen solche Akteure im Alltag einsetzen
Wie sehen solche Schutzmechanismen aus?
Einerseits sind das unsere Sicherheitsbehörden, wie die Polizei oder der Verfassungsschutz, die solche Bewegungen beobachten und gegebenenfalls auch verbieten. Aber auch die Zivilgesellschaft ist hier gefordert und muss sich gegen solche Akteure im Alltag einsetzen. Sozialer Zusammenhalt kann wichtig sein, um das Auftreten solcher Bewegungen zu verhindern oder zumindest unwahrscheinlich zu machen.
Sehen Sie Verbesserungsbedarf bei den Behörden?
Ich denke, dass die Sicherheitsbehörden schon ihr Möglichstes versuchen. Das Problem ist nur, dass Bewegungen mittlerweile viele Möglichkeiten haben, unentdeckt zu operieren. Da kommen vor allem die sozialen Medien ins Spiel. Es ist extrem schwierig, alle extremistischen Aktivitäten dort zu überwachen und ausfindig zu machen. Das ist eine enorme Herausforderung. Da müssen die Behörden versuchen, besser zu werden, was das Aufklären solcher Bestrebungen und Aktivitäten angeht.
Welche Rolle spielen Social-Media-Plattformen bei der Mobilisierung sozialer Bewegungen?
Social Media hat die Koordination und Organisation massiv vereinfacht. Bewegungen können sich jetzt auch transnational sehr stark vernetzen. “Fridays for Future“ ist beispielsweise in Europa und auch über Europa hinaus stark vernetzt. Man konnte das auch bei den Corona-Protesten sehen. Da konnten sich die Leute schnell verabreden, weil Demonstrationsaufrufe, zum Beispiel auf Telegram, schnell geteilt werden konnten.
Sind Plattformen, wie Telegram, in Verbindung mit sozialen Bewegungen eine Gefahr für die Demokratie?
Soziale Medien können hilfreich für soziale Bewegungen – auch für prodemokratische – sein, was die Organisation betrifft. Aber in dem Fall Telegram zeigt sich, dass das eine der beliebtesten Plattformen für Akteure aus dem Rechtsextremismus und Islamismus ist, weil sie dort relativ anonym und ohne große Einschränkungen ihre demokratiefeindlichen Inhalte teilen können. Es gibt keine Moderatorinnen oder Moderatoren, also niemanden, der die Beiträge löscht. Die Nutzerinnen und Nutzer können sich relativ unbekümmert dort äußern. Ich habe in meiner eigenen Forschung gesehen, dass dort zum Teil stark antisemitische Inhalte verbreitet werden. Das passiert nicht nur im Verborgenen, also in geschlossenen Gruppen, sondern auch in öffentlichen Kanälen. Netzwerke wie Telegram eignen sich perfekt dafür, Protest und Handlungen, die sich gegen die Demokratie richten, zu organisieren.
Die Politik sollte immer versuchen, die Demokratie bestmöglich zu schützen
Auf Telegram wurden manche Kanäle, wie der von Attila Hildmann, gesperrt. Sollte die Politik da noch mehr eingreifen?
Die Politik sollte immer versuchen, die Demokratie bestmöglich zu schützen. Daher sollten auch rechtliche Vorkehrungen getroffen und Gesetze verabschiedet werden, die es vereinfachen, solche Plattformen dazu zu bringen, demokratiefeindliche Inhalte zu löschen. Die Praxis sieht aber anders aus. Oft hängt das damit zusammen, dass die Firmen hinter den Plattformen ihren Sitz nicht in Deutschland haben und die deutsche Politik gar kein großes Zugriffsrecht hat.
Was unterscheidet soziale Bewegungen in Deutschland von denen in anderen Ländern?
Der Hauptunterschied besteht in der inhaltlichen und thematischen Ausrichtung. Die Mechanismen der Mobilisierung sind aber immer die gleichen. Egal, ob “Black Lives Matter“, “Fridays For Future“, “Die Letzte Generation“ oder “Pegida“: Alle Bewegungen müssen Framing betreiben, Problemdeutungen kreieren, Problemlösungen unterbreiten, Koalitionen bilden und eine kollektive Identität erschaffen. Unterschiede bestehen eher in den Zielsetzungen und bei den politischen Gelegenheitsstrukturen: In einer Autokratie wird Protest nicht als legitim angesehen und sehr stark unterdrückt. Die Möglichkeiten, sich zu vernetzen, sind da nicht so stark gegeben. Teilweise werden soziale Medien dort überwacht. Dass Protest in nicht-demokratischen Regimen in Gang gesetzt wird, ist viel schwieriger und voraussetzungsvoller als in Demokratien, weil die Entstehungsbedingungen für Protest schlechter sind. Das ist ein wichtiger Unterschied.
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