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“Heute gibt es viel mehr Sensibilität“ — Ein Interview mit Josef Schuster
Dunkel Hell

“Heute gibt es viel mehr Sensibilität“ — Ein Interview mit Josef Schuster

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  • Dr. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrates der Juden, steht häufig aufgrund unschöner Ereignisse in der Öffentlichkeit – seien es die Gedenktage der nationalsozialistischen Verbrechen oder antisemitische Vorfälle. Anlässlich des diesjährigen Festjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ sprach der pensionierte Arzt mit uns und betont, dass auch weitere Aspekte jüdischen Lebens wahrgenommen werden sollten.

1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – häufig wird dieses jedoch lediglich mit der NS-Zeit assoziiert. Stört Sie das?

Schuster: Es ist mir in der Tat ganz wichtig, dass die Bedeutung des Judentums für die Geschichte und Kultur Deutschlands in ihrer ganzen Breite wahrgenommen wird. Die Debatten jüdischer Gelehrter haben etwa im 11. und 12. Jahrhundert nicht nur die jüdische Religion geprägt, sondern hatten allgemein Auswirkungen für die Rechtsentwicklung. Der fruchtbare Austausch zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Wissenschaftlern, Philosophen und Geistlichen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ist immanenter Bestandteil der deutschen Kultur. Doch ebenso sollte man Bescheid wissen über die Pogrome gegen Jüdinnen und Juden im Mittelalter, etwa nach dem Ausbruch der Pest. Dann kann man heute kursierende antisemitische Verschwörungserzählungen im Zuge der Corona-Pandemie besser einordnen.

Zentralrat der Juden
Der Zentralrat der Juden ist die größte Dachorganisation der jüdischen Gemeinden in Deutschland und wurde 1950 gegründet, als noch knapp 15.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland lebten. Heute vertritt der Zentralrat 105 jüdische Gemeinden mit rund 95.000 Mitgliedern, darunter auch die Israelitische Kultusgemeinde Bamberg.

Sie sind in Würzburg aufgewachsen und schon lange Vorsitzender der dortigen jüdischen Gemeinde. Wie empfinden Sie die Situation für Jüdinnen und Juden in Franken?

Schuster: Für die Menschen in meiner Gemeinde kann ich durchweg sagen: Deutschland ist ihr Zuhause. Das gilt auch für Gemeindemitglieder, die in den vergangenen 30 Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingewandert sind bzw. erst recht für deren Kinder und Enkel. Allerdings nehmen wir auch in Franken den wachsenden Antisemitismus wahr, vor allem im Internet. Verbale antisemitische Angriffe erleben wir leider regelmäßig und zu oft.

Dr. Josef Schuster — Präsident des Zentralrats

Schon Ihr Vater engagierte sich rege für jüdische Belange in Deutschland. Auch er war unter anderem Vorsitzender der Würzburger Gemeinde. Welche Unterschiede haben Sie zwischen Ihren Schaffenszeiten bemerkt?

Schuster: Was bei meinem Vater noch deutlich anders war: Die Gemeinde war sehr viel kleiner und auf nicht-jüdischer Seite hatte er es noch recht häufig mit Menschen zu tun, die direkt in das NS-System involviert waren. Ein latenter Antisemitismus war immer vorhanden, auch eine Gleichgültigkeit. Heute – das sehe ich sehr positiv – gibt es viel mehr Sensibilität für Minderheiten in der Gesellschaft und deren Bedürfnisse.

Hier ist zwar noch viel zu tun, doch das Bewusstsein ist bei vielen Menschen geschärft.

Leider ist die Bedrohung durch den radikalen Islamismus hinzugekommen, die es zur Zeit meines Vaters noch nicht gab. Mit rechtsextremistischen Anschlägen hatte die jüdische Gemeinschaft allerdings vor 30, 40 Jahren auch schon zu tun.

Als Vizepräsident des World Jewish Congress und des European Jewish Congress stehen Sie im ständigen Austausch mit Jüdinnen und Juden aus der ganzen Welt. Wie sieht das Ausland jüdisches Leben in Deutschland?

Schuster: In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gab es bei sehr vielen Jüdinnen und Juden in anderen Ländern, vor allem in Israel, kein Verständnis dafür, dass sich Jüdinnen und Juden das Land der Täter als Heimat gewählt hatten. Doch inzwischen ist die jüdische Gemeinschaft in Deutschland auch weltweit akzeptiert. Es wird zur Kenntnis genommen, dass hier die Sicherheit ziemlich hoch ist und wir in der Politik einen großen Rückhalt haben.

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