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Till Lindemann in Bamberg: Warum Protest notwendig ist

Till Lindemann in Bamberg: Warum Protest notwendig ist

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  • Rammstein-Frontsänger Till Lindemann ist am Dienstag (14. November 2023) in der Brose Arena in Bamberg aufgetreten. Das Aktionsbündnis „Keine Bühne Bamberg“ hat deshalb zu einer Protestaktion aufgerufen. Warum das dringend nötig war und was sich im gesellschaftlichen Umgang mit den Themen sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch verändern muss.
Hinweis: In diesem Artikel werden die Themen sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch thematisiert. Wenn es dir damit nicht gut geht, lies den Text lieber nicht oder nicht allein.
Zwischen schlechten Witzen, Bier und Rammstein-Merch

Schon während der Busfahrt zur Demonstration gegen das Till Lindemann Solo-Konzert wird klar: Sensible Sprache und politische Korrektheit darf bei Lindemann-Fans nicht erwartet werden. In dem völlig überfüllten Bus erspähe ich einen letzten freien Sitzplatz. Die Freude darüber wird in dem Moment, in dem ich mich setze, zerstört. „Den haben wir extra für dich freigehalten“, erklärt mir der gegenübersitzende Mann mit einem schmierigen Grinsen. Der Mann neben mir hält es für wichtig, mir zu erklären, dass er nicht beiße: „Das habe ich zumindest meinem Bewährungshelfer versprochen.“ Gelächter bricht aus. „Aber die Fußfesseln haben wir vergessen“, wird ergänzt. Während die Männer mir von ihren Fußfessel-Träumen berichten, gibt einer von ihnen einen quiekenden Laut von sich. „Bist du gerade gekommen?“, fragt ihn eine ebenfalls zu der Gruppe gehörende Frau im Rammstein-Shirt. Seine Antwort: eine Masturbationsbewegung an seiner Bierflasche. Ich fühle mich unwohl und versuche Augenkontakt zu vermeiden. „ICH WILL HIER RAUS!“, schreit plötzlich ein weiterer Mann durch den Bus – die Fahrt dauert ihm zu lang. „Wir gehen heut tanzeeen“, grölt er anschließend. Sein Promillewert steht ihm quasi auf die Stirn geschrieben. Lindemann und seine Musik scheinen wohl nur betrunken aushaltbar zu sein.

Till Lindemann in der Brose Arena: Veranstalter in der Kritik

Im Vorfeld des Konzerts wurden insbesondere der Veranstalter, das Concertbüro Franken, und die Stadt Bamberg kritisiert. Das Aktionsbündnis „Keine Bühne Bamberg“ forderte unter anderem eine Absage des Konzerts. Gegen Till Lindemann waren im Sommer dieses Jahres schwere Anschuldigungen bekannt geworden. Mehrere Frauen hatten unabhängig voneinander von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt während und nach Rammstein-Konzerten berichtet. Die Berliner Staatsanwaltschaft hatte die Ermittlungen gegen Lindemann am 29. August 2023 eingestellt. Der Veranstalter begründete das Stattfinden des Konzerts natürlich mit dem wichtigsten Grund: Geld. Es gebe Verträge, die man zu erfüllen habe. Bei einer Konzertabsage müsse der Veranstalter mit hohen Schadenersatzforderungen rechnen, so Axel Ballreich, Geschäftsführer des Concertbüros, gegenüber BR24. Da es keine Anklage und kein juristisches Verfahren gegen Lindemann gegeben habe, habe eine Absage nicht zur Debatte gestanden. 

Die Stadt Bamberg zieht sich aus der Verantwortung und verweist auf die Tochterfirma BAB Bamberg Arena Betriebsgesellschaft mbH. Als Hallenvermieter sei man sich der „besonderen Verantwortung bewusst“ und nehme die Vorwürfe gegen Lindemann „sehr ernst“, erklärt der Geschäftsführer Dominik Nakic gegenüber inFranken. Die Sicherheit der Konzertbesucher*innen habe „oberste Priorität.“ Deshalb setze man auf das Awareness-Konzept „Luisa ist da“, Safe Spaces und das Verbot der Row Zero (Anmerkung der Redaktion: Mit dem Begriff wird ein abgetrennter Bereich direkt vor der Bühne bei Rammstein-Konzerten bezeichnet.) und der After-Show-Parties. 

Es sollte allerdings jede*m bewusst sein, dass die Einstellung der Ermittlungen gegen Lindemann nicht gleichbedeutend mit einem Freispruch ist. Es gab nie einen Prozess gegen Lindemann, weil sich die Betroffenen nicht trauen, bei der Polizei oder vor Gericht auszusagen. Die Tatsache, dass Betroffene sexualisierter Gewalt Angst haben müssen auszusagen, zeigt, dass das Problem ein strukturelles ist. Das Patriarchat, Sexismus und Misogynie sind so tief in unserer Gesellschaft verankert, dass dadurch die berechtigte Angst besteht, dass Betroffenen nicht geglaubt wird und sie mit massiven Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen rechnen muss. Was muss noch passieren, dass problematischen Künstlern endlich keine Bühne mehr geboten wird?

Statt Betroffenen zu glauben, wittern viele Fans eine Verschwörung gegen ihren Liebling. Die Machtdynamiken eines international erfolgreichen Musikstars gegenüber einzelnen Betroffenen scheinen sie dabei nicht zu sehen. Aktivist*innen kritisierten während des Protestes zudem, dass das Awareness-Konzept zu kurzfristig etabliert worden sei und nicht ausreiche, um ein sicheres Konzerterlebnis zu garantieren.

Demonstrantin hält "Keine Toleranz für Machtmissbrauch"-Schild
„Heult leise“:  Lindemann-Fans pöbeln gegen Aktivist*innen 

Die Situation vor Konzertbeginn ist eine wilde Mischung der Emotionen. Von Wut bis Vorfreude ist alles dabei. So ertönt ein herzliches „Haltet die Fresse!“ in die Richtung der Demonstrant*innen aus einem Auto, das auf das Arena-Gelände fährt. Von Seiten der Aktivist*innen gibt es mehrere Redebeiträge, die auf die Problematiken rund um Till Lindemann, das Patriarchat, Machtmissbrauch und Sexismus hinweisen. Die Reaktionen der Fans sind absurd. Ein Mann läuft mit einem „Heult leise“-Schild an dem Protest vorbei. Allgemein sind viele Männer mittleren Alters auf dem Weg zur Arena. Männer, von denen vermutlich viele Frau und Kinder haben. Was sagen diese Männer ihren Töchtern, sollten sie einmal von sexualisierter Gewalt betroffen sein? Heul leise? Spott, Beleidigungen und Belächeln des Protests sind bei den Fans weit verbreitet. Einige tanzen zu den Protestrufen. Andere zeigen den Mittelfinger. Im Vorfeld wurde wohl erwartet, dass es zu einer Eskalation kommen könnte. Der Bereich der Demonstration ist mit Absperrbändern gekennzeichnet. Auf dem gesamten Gelände sind Polizist*innen verteilt. Insgesamt waren laut Medienberichten etwa 180 bis 200 Menschen an der Protestaktion. 200 im Gegensatz zu circa 6000 Besucher*innen des Konzerts.

Presse? Nein, danke!

Erschreckend ist auch die Tatsache, dass ein Presse-Verbot bei Lindemann-Veranstaltung gängige Praxis zu sein scheint, die scheinbar akzeptiert wird. Bei Lindemann-Solo-Auftritten sind grundsätzlich keine Pressevertreter*innen zugelassen. „Das haben der Künstler und sein Management so entschieden“, erklärt Ballreich im Gespräch mit inFranken. Tja, wenn Till das sagt, scheint man da wohl nichts machen zu können. Was in Rammstein-Kreisen gerne als Hexenjagd bezeichnet wird, nennt man in einer Demokratie allerdings Pressefreiheit und Verdachtsberichterstattung. Wenn man nichts zu verbergen hat und angeblich keiner der Vorwürfe stimmt, warum darf dann die Presse nicht zum Konzert? Der Veranstalter des Konzerts in Bamberg kritisiert dieses Verbot für Journalist*innen zwar, mehr Konsequenzen als ein „Wir finden das bedenklich“, gibt es aber nicht.

Die gute alte Unschuldsvermutung

Den Rechtsstaat legen sich Rammstein-Fans so aus, wie es in ihre Agenda passt. Pressefreiheit, nein danke! Unschuldsvermutung, ja bitte! Aber die gilt nur für Lindemann. Den Betroffenen dagegen wird permanent unterstellt, dass sie lügen oder nur Aufmerksamkeit und von der Berühmtheit der Band profitieren wollen. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Viele Betroffene haben sich anonym geäußert und trauen sich bis heute nicht, auszusagen. Auch die These, man müsse Künstler und Werk trennen, ergibt keinen Sinn. Das Gedankengut, das in den sexistischen und widerlichen Songtexten und Gedichten landet, entsteht in Lindemanns Kopf. Dieser Mann verfasst Vergewaltigungsfantasien in Gedichtform und scheint stolz darauf zu sein, sie in pornohaften Musikvideos zu präsentieren.

Der Fall Lindemann zeigt erneut den problematischen Umgang unserer Gesellschaft mit Fällen sexualisierter Gewalt auf. Noch immer müssen Betroffene Angst haben, dass ihnen nicht geglaubt wird. Noch immer werden solche Fälle nicht ausreichend aufgearbeitet. Noch immer können Beschuldigte einfach weitermachen wie zuvor. In Zukunft wird es vermutlich auch nicht besser werden. Denn nach Luke Mockridge und Till Lindemann soll noch im Dezember Faisal Kawusi in Bamberg auftreten, der wegen Witzen über K.O.-Tropfen und sexualisierte Gewalt in der Kritik steht. Gerade wegen der weit verbreiteten Misogynie ist es auch weiterhin notwendig, dass es Protestaktionen gegen Veranstaltungen problematischer Künstler gibt und die patriarchalen Strukturen kritisiert statt hingenommen werden. 

Wichtig ist und bleibt außerdem die uneingeschränkte Solidarität mit allen Betroffenen sexualisierter Gewalt. Denn falls es trotz der mittlerweile verbotenen Row Zero und dem Awareness-Konzept zu Übergriffen bei dem Konzert gekommen sein sollte, bleibt nur zu unterstreichen, was auch die Aktivist*innen erklärten: „Wir glauben euch, auch wenn ihr uns jetzt noch den Mittelfinger zeigt.“

Hier findest du Hilfe, wenn du von sexualisierter Gewalt betroffen bist:

Telefon: 0800/1110111

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