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Eine ukrainische Studentin erzählt…
Dunkel Hell

Eine ukrainische Studentin erzählt…

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  • In Bohdana Semeniuks Heimatland herrscht Krieg. Die 19-jährige Ukrainerin studiert seit drei Semestern Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft und Geschichte an der Uni Bamberg. Parallel studiert sie in Lwiw Journalistik an der Ivan Franko National University im fünften Semester. Wie es ihr mit der aktuellen politischen Situation geht, wie sie das Handeln der deutschen Politik und Bevölkerung bewertet und auf welche Art man sie unterstützen kann, erzählt sie uns im Interview.

1. Aus welchem Teil der Ukraine kommst du? Hast du Kontakt zu Menschen vor Ort?

Ich komme aus dem westlichen Teil der Ukraine und bin in der Stadt Chmelnyzkyj in der Westukraine geboren. Manche nehmen das sehr naiv wahr und sagen mir, dass dort kein Krieg herrsche. Aber meine Freunde schlafen nach wie vor in Kellern und hören jede Nacht und jeden Tag den Luftalarm, die Sirene. Es gibt so viele „aber“. Es gibt in der Ukraine keinen Ort mehr, wo du dich sicher fühlen kannst.

Du schläfst ein mit dem Gedanken, ob du am nächsten Tag wieder aufwachst.

Ich bin ständig in Kontakt mit den Menschen vor Ort, ich bekomme Videos, Sprachnachrichten, Telefonanrufe und SMS – Tags und nachts. Ich erlebe den Krieg virtuell mit.

2. Wie geht es deiner Familie? Was denken und machen sie?

Alle sind noch am Leben. Das ist das Wichtigste für mich. Obwohl mein Vater schon Rentner ist, hat er versucht, sich freiwillig für die Bürgerwehr zu melden. Er wollte sein Land, seine Region, seine Stadt und seine Familie schützen. Aber ihm wurde abgesagt, weil genug Leute da waren. Deshalb habe ich mit meinen Eltern eine Art Vereinbarung gemacht: Ich komme erstmal nicht aus Deutschland in die Ukraine, aber dafür kommen sie zu mir nach Deutschland. Meine Mutter ist Lehrerin und unterrichtet Schulkinder nach wie vor in Geschichte – jetzt online aus Deutschland. Sie meinte, es sei jetzt besonders wichtig, Kindern zu erklären, was passiert ist und wie es dazu gekommen ist. Mein Cousin sitzt seit dem ersten Kriegstag im Panzer und sagte, dass er nur dann aufhöre, wenn die Ukraine gewinne. Mein Onkel ist auch in Charkiw, er ist ein Offizier. Einige meiner Kommilitonen und Kommilitoninnen aus Lwiw sind jetzt in der Bürgerwehr. Manche von ihnen haben sich als Freiwillige angemeldet und helfen entweder der Armee, indem sie beispielsweise kochen, oder sie kümmern sich um die Binnenflüchtlinge [Anm. d. Red.: Binnenflüchtlinge sind Flüchtlinge, die innerhalb ihres eigenen Landes Zuflucht suchen], die jetzt von überall her in die Westukraine fliehen.

3. Wie fühlst du dich, wenn du in dein Heimatland blickst?

Meine Gefühle sind nicht so leicht zu beschreiben. Was kann ich nur fühlen, wenn mich meine Schwester mit meinem kleinen Neffen, der erst sechs Jahre alt ist, um vier Uhr morgens anruft und sagt, dass der Krieg angefangen hat, dass in der Stadt Raketen und Bomben zu hören sind, dass alles brennt und sie nicht wissen, ob sie überleben? Was kann ich fühlen, wenn meine Freundin ihr Zuhause schon zum zweiten Mal verliert, zuerst Lugansk im Jahr 2014, dann Irpin im Jahr 2022? Was kann ich fühlen, wenn der Vater meiner Freundin tot ist? Was kann ich nur fühlen, wenn mir ein guter Freund davon erzählt, wie in Cherson eine Familie mit drei kleinen Kindern vor seinen Augen getötet wurde? Ich versuche mich jeden Tag zu fragen: Was fühlst du in diesem Moment, jetzt gerade, wo du bist, aber finde immer noch keine Antwort.

Ich weiß nicht, was ich fühle…

Natürlich haben wir alle gewusst, dass bald ein Krieg kommen wird. Alle meine Hausarbeiten und Referate an der Uni im Wintersemester 2021/22 waren auch über den Krieg, der bald kommen wird. Aber niemand hat damit gerechnet, dass es einen solchen Krieg geben wird. Als das Ganze am 24. Februar angefangen hat, konnte ich es einfach nicht glauben. Ich habe vor dem Laptop gesessen, Nachrichten geschaut und fast fünf Tage lang nichts gegessen. Nach etwa fünf bis sechs Tagen war ich endlich wieder „da“. Ich konnte mehr oder weniger schlafen und bin spazieren gegangen. Ich habe verstanden, dass ich nicht einfach dasitzen und hören kann, wie es den Menschen dort geht. Ich musste etwas tun. Also habe ich am 1. März zusammen mit meinen deutschen Freunden einen Verein gegründet: „Freundeskreis Ukraine Haßberge“. Er hilft den Menschen in der Ukraine. Wir sind schon mehr als zehn Mal zur polnischen Grenze gefahren und haben dort die Sachen meinen Freunden gegeben, die sie dann weiter nach Charkiw, Mykolajiw und andere Städte, wo sie gebraucht werden, transportieren. Außerdem bin ich jetzt als Übersetzerin in den Stadtbehörden aktiv. Ich helfe Menschen, die nach Deutschland geflohen sind, eine Unterkunft zu finden und sorge dafür, dass sie sich hier wohlfühlen.

4. Wie empfindest du das deutsche Vorgehen aus der Politik und der Bevölkerung bisher?

Ich war immer der Meinung, dass das politische System in einem demokratischen Land die Bevölkerung selbst widerspiegelt. Aber die deutsche Bevölkerung hat das widerlegt. „Ich schäme mich für mein Land, für die Politik, die bei uns gemacht wird. Ich will dir beweisen, dass wir, einfache Deutsche, nichts mit dem Chaos im Parlament zu tun haben. Wir sind anders und wir werden immer auf der ukrainischen Seite stehen“, hat mir ein deutscher Mann gesagt, der meinen Verein unterstützt und einen LKW voller Spenden Woche für Woche nach Polen fährt. Die Deutschen sind komplett anders als die Regierung, die jetzt in Deutschland regiert. Als der Krieg angefangen hat, war meine studentische E-Mail voller Nachrichten. Alle Dozierenden und Universitätsangehörigen, die mich kennen, haben mir ihre Solidarität gezeigt. Das war damals eine Erlösung für mich.

Jede Nachricht hat mich stärker gemacht und mich ermutigt, wieder zum Leben zu erwachen.

Einfache Menschen in Deutschland beweisen, dass sie auf der ukrainischen Seite stehen. Sie nehmen ukrainische Familien in ihre Häuser auf, sie teilen ihr Abendbrot mit ihnen, sie helfen ihnen, Arbeit zu finden und unterstützen sie finanziell. Dafür bin ich als Ukrainerin sehr dankbar. Wenn ich den Menschen in der Ukraine erzähle, wie stark die Menschen die Ukraine hier unterstützen, sind sie total begeistert und laden herzlich zum Besuch nach dem Sieg und Wiederaufbau ein.

5. Weißt du, wie es für dich persönlich weitergeht?

Bild: Bohdana Semeniuk

Ich bin seit zwei Jahren in Deutschland und es war geplant, dass ich hier noch mindestens drei bis vier Jahre bleiben werde. Wie es sich weiter entwickeln wird, kann ich leider nicht abschätzen. Es ist schwierig zu beantworten. Ich mache oft alles nach Gefühl. Es ist nicht immer rational, aber dafür immer ehrlich. Erstmal habe ich meinen Eltern versprochen, nicht zurück in die Ukraine zu kommen. Aber wenn ich irgendwann fühlen würde, dass ich in diesem Moment, da, in meinem Heimatland nützlich wäre, dann packe ich meinen Koffer und fahre nach Hause.

Weitere Infos

Die Ukraine wird gewinnen, sie wird wieder stark und unabhängig sein – da ist sich Bohdana Semeniuk sicher. Sie meint aber auch: Du kannst deinen Beitrag für die Ukraine leisten – beispielsweise indem du humanitär unterstützt, beim Einkauf militärischer und medizinischer Ausrüstung hilfst, die verifizierten Fakten über den Krieg in den Sozialen Medien verbreitest und dich dafür einsetzt, dass Staaten Waffen an die Ukraine liefern.
Bohdanas Verein „Freundeskreis Ukraine Haßberge“ kannst du mit einer Spende auf folgendes Konto unterstützen:

Freundeskreis Ukraine-Haßberge
IBAN: DE60 7935 0101 0021 9778 63
BIC: BYLADEM1KSW
Sparkasse Schweinfurt-Haßberge
Verwendungszweck: Die Ukraine lebt

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