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Alltag im Ausnahmezustand

Alltag im Ausnahmezustand

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  • Oliver Mayer-Rüth ist seit Januar 2016 ARD-Auslandskorrespondent in Istanbul, dort arbeitet er für den Bayerischen Rundfunk. Im Interview mit dem OTTFRIED spricht der ehemalige Bamberger Student über seinen journalistischen Werdegang, die besonderen Herausforderungen der Arbeit in der Türkei und schildert seine Sicht auf das deutsch-türkische Verhältnis.

Herr Mayer-Rüth, Sie üben einen Beruf aus, den viele Menschen als „Traumjob“ bezeichnen würden: War das die Erfüllung eines langjährigen Traums?
Mayer-Rüth: Das kann man schon sagen. Angefangen habe ich beim Bayerischen Rundfunk als Reporter im Studio Franken, wo ich über alles Mögliche berichtet habe, was in Nordbayern Thema war: BSE und die verrückte Kuh zum Beispiel. Irgendwann nach dem 11. September 2001 habe ich dann den Bundeswehrarzt Reinhard Erös für die Tagesthemen interviewt, der in Peshawar Schulen für afghanische Flüchtlingskinder aufbaute. Er hat mir angeboten, mit ihm nach Pakistan zu fliegen, um mir seine Projekte anzuschauen. Das habe ich auch gemacht und gleichzeitig von dort über den Afghanistankrieg berichtet. Danach hat mich der Bayerische Rundfunk öfter ins Ausland geschickt: Ich war Reporter im Irakkrieg, habe einen Tag, nachdem die amerikanischen Truppen eingerückt sind, aus Mosul berichtet und bin vom Norden nach Bagdad weiter an die syrische Grenze gefahren, wo es wirklich wild war zu der Zeit. Dann habe ich über fast zwei Jahre hinweg abwechselnd einen Monat in Rom und einen Monat in Nürnberg gearbeitet. Damals war ich schon verheiratet und hatte einen Sohn, dann kam auch noch der zweite. Da habe ich dem BR signalisiert, dass dieses Hin und Her für meine Familie nicht so schön ist. Der BR hat das verstanden und so durfte ich mit meiner Familie nach Tel Aviv von 2006 bis 2011. Anschließend habe ich für das Hauptstadtstudio in Berlin gearbeitet, dann kam das Angebot für die Türkei. Es waren also auch glückliche Zufälle im Spiel.

Haben Sie eine besondere Vorliebe für den Nahen Osten?
Mayer-Rüth: Das kam einfach so. Ich habe in Bamberg Kommunikationswissenschaft und Spanisch studiert. Während meines Studiums habe ich zwei Semester in Venezuela verbracht und das ist ja auch kein einfaches Land. Man braucht schon interkulturelle Kompetenzen in solchen Ländern. Man muss offen sein für die Zustände, die nicht immer dem entsprechen, was sich viele Deutsche unter Staat und Behörden vorstellen. Auch das Sicherheitsgefühl ist anders und so ist das natürlich auch in Israel gewesen. Man muss einfach eine gewisse Bereitschaft haben, viele deutsche Eigenarten abzulegen, die wir auf unseren Schultern mit uns herumtragen. Diese Fähigkeit besitzt man allerdings nicht von sich aus, sondern man eignet sie sich an, indem man in solchen Ländern eine Zeit lang lebt. Abgesehen davon ist der BR für fünf Fernsehstudios verantwortlich und das sind nun einmal Israel, die Türkei, der Iran, Österreich mit Südosteuropa und dann eben Italien, zu dem Griechenland gehört. Deswegen damals Rom, Tel Aviv und Istanbul – es ist also nicht so, dass ich Turkologie studiert hätte.

Wir erzählen Fakten, wir sind hier nicht die großen Meinungsmacher.

Nun hat sich die Lage für Journalisten in der Türkei seit Beginn 2016 weiter verschlechtert, insbesondere nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016. Welche Auswirkungen hat das ganz konkret auf Ihre Arbeit und die Ihres Teams?
Mayer-Rüth: Klar, wenn so ein Putschversuch stattfindet und der Terrorismus dann eine eigene Definition bekommt, überlegt man sich schon manchmal, was geht eigentlich und was geht nicht. Man will ja nicht unbedingt im Gefängnis landen, das ist gar keine Frage. Aber wenn die Tagesschau anruft und zu einem Thema etwas haben will, dann berichten wir darüber. Da haben wir noch nie gesagt, über dieses Thema können wir nicht berichten, weil es zu heikel ist.
Nichtsdestotrotz gibt es natürlich manche Dinge, bei denen ich weiß, dass die ganz schnell zu Problemen führen können. Zum Beispiel, wenn die Berichterstattung über die PKK oder die Gülen-Bewegung, die als Terrororganisationen eingestuft werden, nicht mehr neutral ist. Die Türkei verfolgt dann die sogenannte Terrorpropaganda. Das ist uns klar, wenn wir Tagesschauberichte machen. Wir erzählen Fakten, wir sind hier nicht die großen Meinungsmacher. Das ist auch nicht unsere Aufgabe und ich glaube auch nicht, dass der Zuschauer das will. Wir ordnen schon ein in unseren Beiträgen und versuchen neben den Fakten zu erklären, was die einzelne Nachricht im größeren Zusammenhang bedeutet, aber wir müssen hier nicht permanent Meinung machen. Wir machen Nachrichten. Ich wurde allerdings auch noch nie von der Regierung angerufen, nach dem Motto „das geht so nicht“. Mir wurde allerdings schon einmal signalisiert, dass man den türkischen Präsidenten nicht als Diktator bezeichnen darf, weil er ja gewählt worden sei. Aber das ist schon fast eine politikwissenschaftliche Frage und da versteigen wir uns auch nicht.

Haben Sie während Ihrer Zeit in Istanbul schon einmal eine brenzlige Situation erlebt?
Mayer-Rüth: Ja, und zwar damals, als die Niederländer die türkischen Kabinettsmitglieder nicht ins Land gelassen haben. An dem Abend habe ich für die Tagesthemen eine Live-Sendung in der Istiklal Caddesi, der Haupteinkaufsstraße, vor der niederländischen Botschaft gemacht. Dort hatten sich viele Anhänger der Regierungspartei AKP versammelt und die Stimmung war ziemlich aufgeheizt. Zuerst kamen ein paar Türken, die uns beschützen wollten. Aber als die Sendung vorbei war, kam dann auch einer und hat gesagt: „Ich hoffe du hast keinen Mist erzählt, weil wenn du Mist erzählt hast, finden wir dich.“ Am nächsten Tag haben wir noch einmal eine Live-Sendung gemacht, und zwar direkt vor dem Konsulat. Da kamen dann interessanterweise Deutschtürken auf uns zu, die sehr aggressiv mit meinem Kollegen diskutiert haben. Als die türkische Polizei sie aufgefordert hat weiterzugehen, haben sie gesagt, wir könnten froh sein, dass die Polizei da ist, weil sie uns ansonsten zeigen würden, wer hier das Sagen hat. Das war unangenehm.
Im Alltag fühle ich mich dagegen sehr wohl in der Türkei, und meiner Familie geht es genauso. Viele fragen uns: „Was macht ihr eigentlich noch da?“ Ich kann die Frage auch ein Stück weit nachvollziehen, weil das alles von außen ein bisschen spooky aussieht, aber eigentlich geht es uns hier sehr gut. Ich bin auch immer wieder gefragt worden, ob man hier überhaupt noch Urlaub machen könnte. Da hatte ich oft Schwierigkeiten, weil wir hier eben Urlaub machen. Der Service ist ganz toll und die Menschen sind sehr gastfreundlich. Aber viele sagen: „Wie kann man das mit seinem Gewissen vereinbaren? Der Staatspräsident Erdogan geht gegen die Menschenrechte vor und sperrt Journalisten ein.“ Dann geht es natürlich irgendwann schon sehr um das Prinzipielle. Ich bin hier und mache meinen Job. Ich berichte über das, was Herr Erdogan hier veranstaltet, aber auch darüber, was den Menschen, die sich als Opposition sehen, dadurch passiert. Und es ist wichtig, dass man darüber berichtet – wenn wir nicht hier wären, könnten wir das nicht abbilden.

Ihre Frau und Ihre drei Kinder wohnen mit Ihnen zusammen in Istanbul. Was haben sie zu der Entscheidung gesagt, nach Istanbul zu ziehen?
Mayer-Rüth: 2015 ist die Entscheidung gefallen und wir waren eigentlich alle ganz begeistert, weil es damals noch hieß, Istanbul sei eine der hipsten Städte der Welt. 2016 war dann alles nicht mehr so hip, wegen der ganzen Terroranschläge. Als meine Frau das erste Mal hier hinkam, das war der Tag, an dem der Terroranschlag mit den fünf Toten in der Istiklal-Straße passierte. Sie war gerade am Flughafen in Berlin, da erschien auf ihrem Handy die Meldung „Terroranschlag in der Istiklal“. Kurz vor dem Schalter hat sie mich angerufen und gefragt, ob sie jetzt überhaupt kommen soll. Ich habe ihr gesagt, dass ich sie nicht zwingen kann, aber dass es natürlich schön wäre, wenn sie kommt. Sie war mutig und kam trotzdem. Das war ein ziemlich deprimierender Einstieg, weil die Stadt zwei Tage lang total leer war. Wir saßen mit unseren Kindern im Hotelzimmer und kamen nicht so richtig heraus, aber dann haben wir eine Bootsrundfahrt auf dem Bosporus gemacht und das war auch okay. Wir hatten halt einfach die Entscheidung gefällt. Meine Frau war damals mit den Kindern noch in Deutschland. Sie kamen dann erst in den Sommerferien 2016 hier her. Da lag auch noch der Putschversuch dazwischen. Wobei ich auch eines sagen muss: Ich glaube, wenn die Putschisten damals gewonnen hätten, dann hätten wir hier nicht bleiben können. Dann wäre ein ganz anderes Regime an die Macht gekommen, mit wesentlich mehr Repressionen.

Wie haben Sie damals die Putschnacht vom 15. Juli 2016 erlebt?
Mayer-Rüth: Die habe ich gar nicht erlebt. Beziehungsweise habe ich sie insofern erlebt, als dass ich abends um 18.50 Uhr in den Flieger nach Berlin gestiegen bin und ich nachts zuhause diese ganzen Meldungen gesehen habe. Daraufhin habe ich natürlich mit dem damaligen Studioleiter Michael Schramm gesprochen und meinen Chefredakteur Sigmund Gottlieb angerufen. Der hat mir dann die Frage gestellt: „Herr Mayer-Rüth, und was machen wir jetzt?“ An dem Tag nach dem Putsch, am 16. Juni, war der Geburtstag meines Sohnes, deswegen bin ich auch nach Hause geflogen. Außerdem sollte in der Folgewoche unser Umzug nach Istanbul stattfinden. Aber ich bin dann am nächsten Abend mit dem ersten Flieger zurückgeflogen und wir haben zwei bis drei Tage lang durchberichtet. Wobei keiner, mit dem ich in den ersten Stunden gesprochen habe, verstanden hat, was da passiert. Vor allem die Ausländer haben alle nicht kapiert, was da los ist. Die ganzen Nachrichten liefen auf Türkisch und die Regierung hat sich ja auch lange nicht geäußert, bis dann nachts irgendwann Erdogan im Fernsehen über Facetime erschien. Das war alles ziemlich undurchsichtig. Am nächsten Tag war die Stadt fast wie ausgestorben, da ging gar nichts mehr. Als ich abends zurückkam, bin ich noch nie so schnell mit dem Taxi in die Innenstadt gefahren, es waren fast keine Autos auf der Straße. Und am übernächsten Tag war alles so, als ob nichts gewesen wäre – trotz der vielen Toten und Verletzten, die es gab.

Es ist nicht unsere Aufgabe, hierher zu kommen und ihnen zu erklären, wie es zu laufen hat.

Wie sollte die deutsche Regierung Ihrer Meinung nach mit der Türkei umgehen?
Mayer-Rüth: Man muss Realpolitik machen. Manche fordern, überhaupt nicht mehr miteinander zu reden, die Gegenseite zu boykottieren. Das halte ich alles für ziemlich weltfremd. Man muss mit ihnen reden und man muss hören, was sie wollen. Man kann sich nicht gegenseitig ignorieren und die Gesprächskanäle abschneiden. Aber man muss Ankara auch deutlich machen, was nicht geht: Journalisten festnehmen und Verstöße gegen Menschenrechte begehen. Den Türken ist aber sehr wichtig, dass man auf Augenhöhe mit ihnen spricht. Und das muss man auch machen, da darf man nicht überheblich sein. Klar berichten wir über Verstöße gegen Menschenrechte, aber ich muss den Türken nicht erklären, wie Demokratie funktioniert. Sie müssen schon selber wissen, wen sie am Ende wählen. Und sie müssen auch selber entscheiden, was für ein System sie anstreben und wie wichtig ihnen in diesem System die Religion ist. Wollen sie einen säkularen Staat oder wollen sie eher einen islamischen Staat? Es ist nicht unsere Aufgabe, hierher zu kommen und ihnen zu erklären, wie es zu laufen hat. Da bin ich total dagegen. Ich glaube, wenn man offen miteinander redet und seine Vorstellungen dem anderen deutlich macht, dann gibt es Schnittmengen, innerhalb derer man zusammenarbeiten kann. Andererseits wird es aber immer auch Themen geben, bei denen man unterschiedlicher Meinung ist. Da müssen sich die Deutschen an der Wahlurne überlegen, ob sie das mittragen wollen. Was mich nach wie vor irritiert, sind diese Nazi-Vergleiche. Ich habe das Gefühl, dass den Herrschaften in Ankara offenbar nicht so richtig klar war, was das für uns bedeutet. Kein normal denkender Deutscher kann nachvollziehen, dass man mit diesem Verbrecherregime oder den Methoden der Nazis verglichen wird. Da sind sie ein bisschen über das Ziel hinausgeschossen. Auf der anderen Seite ist natürlich die Frage, wie es sein kann, dass ein PKK-Chef in Deutschland auf einer Leinwand vor der Öffentlichkeit sprechen darf und ihm seine Anhänger zujubeln, obwohl die PKK auch bei uns als Terrororganisation eingestuft wird. Erdogan hingegen darf auf einer Demonstration nicht vor einer Leinwand sprechen. Dann sagen natürlich viele Türken: „Geht’s noch?“ Wie kann es sein, dass diese Organisation in Deutschland Gelder sammeln und unter Umständen auch Kämpfer rekrutieren kann? Da verstehe ich die Türken, weil sie durch die vielen Anschläge, die es 2016 gab, ganz anders mit dem Problem konfrontiert sind als wir.

Apropos Verständigung: Sie haben während Ihrer Zeit in Tel Aviv Hebräisch gelernt. Was war für Sie schwieriger zu lernen, Hebräisch oder Türkisch?
Mayer-Rüth: Türkisch. Die Struktur dieser Sprache ist ganz anders. Hebräisch war auch schon kompliziert, vor allem, wegen der anderen Schrift. Das ist im Türkischen ein bisschen einfacher. Aber das Türkische hat ja ganz viele Suffixe, mit denen Genitiv, Dativ, Akkusativ und ganz viele Gerundien ausdrückt werden. Mit Suffixen werden sogar Relativsätze gebildet. Damit habe ich ein Riesenproblem, weil es unserer Denkstruktur widerspricht. Im Hebräischen war das nicht so, da kann man einen Relativsatz genauso bilden wie im Deutschen oder Englischen, deswegen ist das Türkische eindeutig schwieriger für mich.

Oliver Mayer-Rüth ist 45 Jahre alt und stammt aus Erlangen.

  • Seit 7. Januar 2016 ist er ARD-Auslandskorrespondent in Istanbul.
  • In Bamberg hat er von 1994 bis 1999 Kommunikationswissenschaft und Spanisch studiert, zwei Semester davon verbrachte er in Venezuela.
  • Seine Frau und seine drei Kinder leben mit ihm in Istanbul.
  • Oliver Mayer-Rüth könnt ihr auf Twitter folgen.
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