Artikel so heavy wie Metal.
Es ist das erste Mal in der deutschen Geschichte, dass die Regierung auf Bundesebene aus einer Koalition von drei Parteien bestehen wird. Das bietet zum einem die Chance, mehr verschiedene Sichtweisen zu integrieren. Andererseits birgt es aber auch die Gefahr, dass Ziele wahnsinnig unkonkret und schwammig werden, da zu viele Kompromisse eingegangen werden müssen.
Klimaschutz sofort! …oder doch nicht?
Für die Grünen war Klimaschutz der ausschlaggebende Punkt bei der Entscheidung, ob sie einer Ampel-Koalition beitreten oder nicht. Und tatsächlich findet sich schon auf den ersten Seiten des Koalitionsvertrages das Versprechen: „Die Klimaschutzziele von Paris zu erreichen, hat für uns oberste Priorität.“ Ist das wirklich so?
Der Beginn des Kapitels „Klimaschutz in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft“ könnte den FDP-Fußabdruck in dem Vertrag nicht deutlicher machen: Schon das zweite Wort ist „Wirtschaft“. Die FDP stellt sich aber natürlich nicht total gegen den Klimaschutz, einige positive Errungenschaften können durchaus festgehalten werden. Bis 2030 sollen 80 Prozent des Strombedarfs in Deutschland aus Erneuerbaren Energien stammen. Für die Windenergie sollen zwei Prozent der Landesflächen genutzt werden können. Deutschland soll Leitmarkt für Elektromobilität werden, den Verbrennungsmotor werden wir „hinter uns lassen“. Außerdem soll eine Solardachpflicht für gewerbliche Neubauten eingeführt werden, für private Dächer soll es keine Pflicht geben, eher eine Empfehlung. Neue Gesetzesentwürfe sollen einem „Klimacheck“ unterliegen, bevor sie verabschiedet werden.
Es gibt aber auch einiges zu kritisieren. Das Klimaschutzgesetz soll im Jahr 2022 zunächst weiterentwickelt werden und erst Ende desselben Jahres fertiggestellt werden. Die Klimakrise ist ja bekanntlich keine, die schnelles Handeln erfordert… Ein Tempolimit von 130km/h auf deutschen Autobahnen soll es auch mit der neuen Regierung nicht geben. Dabei wäre das, wie es im „Die Lage der Nation“-Podcast so treffend formuliert wurde, ein absoluter no brainer in Sachen Klimaschutz. Eine naheliegende, einfach umzusetzende, aber dennoch effektive Maßnahme. Ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, der nicht gegangen wird. Aber die Deutschen und ihr Auto sind wohl einfach eine Liebesgeschichte der ganz besonderen Art. Der Kohleausstieg soll nach wie vor nur „idealerweise“ bis 2030 erfolgen. Also nur, wenn es keine Umstände macht. Der CO2-Preis soll vorerst nicht steigen, sondern lediglich nicht unter 60 Euro pro Tonne fallen. Wie effektiv er so als Instrument für den Klimaschutz überhaupt ist, ist fragwürdig. Auch die Formulierung „Deutschland auf den 1,5-Grad-Pfad bringen“ zu wollen, bedient das Narrativ der weit entfernten Krise, die uns jetzt noch nicht zu kümmern braucht. Der allgemeine Konsens der renommierten Wissenschaftler*innen ist zwar, dass wir besser gestern als heute etwas unternommen haben sollten, aber das scheint kein Grund zur Eile zu sein.
Endlich diverse Politik?
Immerhin kann die SPD wohl eine Sache wiedergutmachen, für die sie massiv kritisiert wurde: die Reform des Transsexuellengesetzes, die in der Großen Koalition mit der Union gescheitert ist. Das umstrittene Gesetz soll nun abgeschafft und durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzt werden. Das bedeutet, jede*r kann zukünftig über Selbstauskunft den eigenen Geschlechtseintrag beim Standesamt ändern lassen, ohne auf diskriminierende Fragen und bürokratische Hürden zu stoßen.
Queerfeindlichkeit soll durch einen „Aktionsplan für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“ entgegengewirkt werden. Dieser Plan beinhaltet unter anderem mehr Aufklärung an Schulen und eine Förderung von Diversity Management im Arbeitsleben. Geschlechtsspezifische und homophobe Motive sollen explizit in den §46 des Strafgesetzbuches aufgenommen werden. Dieser regelt die Strafzumessung, indem er die Schuld von Täter*innen als Grundlage für das Vergeben von Strafen sieht. Bisher beinhaltet der Paragraf „rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende“ Beweggründe. Das Blutspendeverbot für homosexuelle Männer und Trans*personen will die Ampel-Koalition abschaffen. Regenbogenfamilien sollen bei familienpolitischen Entscheidungen stärker berücksichtigt werden. Wie genau das aussehen soll, bleibt allerdings offen.
Rechtsextremismus wird als größte Gefahr für unsere Demokratie erkannt und im Kampf gegen Menschenfeindlichkeit wird vor allem auf „Arbeit gegen Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus, insbesondere gegen Schwarze Menschen, Muslimfeindlichkeit, Frauenhass und Queerfeindlichkeit sowie Angriffe gegen Geflüchtete und Engagierte“ gesetzt.
Wie divers die neue Regierung mit den Minister*innen wird, ist noch nicht abschließend bekannt. Nur die FDP hat bereits bekannt gegeben, wer ihre vier zugesprochenen Ministerien übernehmen wird. Naja, bei vier Posten bieten die Liberalen immerhin eine Frau. Was auch schon feststeht ist, dass Olaf Scholz der neue Bundeskanzler werden soll. Annalena Baerbock wird wohl das Außenministerium und Robert Habeck das Ministerium für Wirtschaft und Klima übernehmen. So berichten zumindest verschiedene Nachrichtenformate.
Eine Stimme für junge Menschen
FDP, Grüne und SPD wollen das Wahlrecht reformieren und es unter anderem ermöglichen, dass junge Leute ab 16 Jahren an Wahlen teilnehmen dürfen. Ein längst überfälliger Vorschlag. Der Spiegel berichtet, dass durch ein Wahlrecht ab 16 rund 1,5 Millionen Stimmen dazu kämen, die vorher nicht gehört worden sind. Gerade angesichts der Krisen, die unsere und folgende Generationen am meisten betreffen werden und der Alterung der Gesellschaft, ist es eigentlich ein schlechter Witz, dass erst jetzt erkannt wird, wie wichtig es ist, junge Menschen mitsprechen zu lassen.
Die Idee, das Wahlalter zu senken, klingt also erstmal super. Auch erkannt wurde die Tatsache, dass für die Umsetzung der Idee (zumindest für die Bundestagswahlen) das Grundgesetz geändert werden muss. Denn dieses sagt in Artikel 38, Absatz 2 ganz deutlich, dass das Wahlrecht erst ab 18 Jahren besteht. Um das zu ändern, muss also die Verfassung geändert werden. Aber das ist gar nicht mal so einfach. Denn dafür braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Das heißt, die Stimmen der Oppositionsparteien LINKE, CDU/CSU und AfD werden gebraucht. Die LINKE dürfte nicht abgeneigt sein, ist aber die Partei mit den wenigsten Mandaten im Bundestag. Dass die Union dem Ganzen zustimmt, ist ziemlich unwahrscheinlich. Deren Stammwähler*innenschaft besteht bekanntlich überwiegend aus älteren Menschen. Warum also sollte die Union sich selbst noch mehr schaden, als sie es ohnehin schon tut? Naja, und die AfD zeichnet sich ja dadurch aus, dass sie grundsätzlich erstmal „dagegen“ ist.
Die Frage ist also: Woher nimmt die Ampel den Optimismus, dass dieses Vorhaben tatsächlich umgesetzt werden kann?
Das Internet – kein Neuland mehr?
Digitalisierung ist schon seit Jahren eines der wichtigsten Themen der FDP. Die Forderung nach einem „digitalen Aufbruch“ zieht sich durch den ganzen Koalitionsvertrag. Die digitale Infrastruktur soll ausgebaut werden. Das Ziel ist eine flächendeckende Glasfaserversorgung, neuester Mobilfunkstandard, bessere Mobilfunk- und WLAN-Empfang bei der Bahn und Barrierefreiheit bei der digitalen Teilhabe. Um Digitalisierung für die breite Gesellschaft tatsächlich möglich zu machen, soll ein Digitalbudget eingeführt werden und neue Gesetze einem „Digitalisierungscheck“ unterzogen werden.
(Mehr) BAföG für alle?
Anlässlich des 50. Geburtstages des Bundesausbildungsförderungsgesetzes, wie BAföG ausgeschrieben so schön heißt, ist vieles kritisiert worden. Zum Beispiel seien die Zahlungssätze gesunken und immer weniger Studierende erhielten die Zahlungen überhaupt, wie der WDR berichtet. Diesem Problem widmet sich auch die Ampel. Sie will BAföG elternunabhängiger machen, indem der Garantiebetrag der Kindergrundsicherung direkt an die berechtigten Volljährigen in Ausbildung und Studium ausgezahlt wird. Außerdem sollen Freibeträge deutlich erhöht, Altersgrenzen angehoben und Studienfachwechsel erleichtert werden. Auch die Förderhöchstdauer soll verlängert werden und die Bedarfssätze sollen steigen. Das nervige Beantragen von BAföG soll schneller und digitaler werden und es soll gezielter für BAföG geworben werden.
Wer soll das finanzieren?
Die graue Wolke, die über all den neuen Ideen und Forderungen schwebt, ist die Frage der Finanzierung. Ob die FDP-Mentalität des magischen Marktes, der das schon alles irgendwie regeln wird, hier zielführend ist, ist fraglich. In dem Bereich der Finanzen hat sich die FDP erneut deutlich durchgesetzt. Christian Lindner wird das Finanzministerium leiten. Es wird keine Vermögenssteuer und keine Steuererhöhungen geben, aber millionenschwere Investitionen und eine Schuldenbremse. Ein Lichtblick findet sich in der Tatsache, dass umwelt- und klimaschädliche Subventionen und Ausgaben abgebaut werden sollen. Um den Rest wird sich der Markt schon kümmern.
Was bleibt hängen?
Die Ampel-Koalition kommt schon recht fortschrittlich daher. Im Vergleich zur Union modern zu wirken, ist zugegebenermaßen aber auch nicht sehr schwer. SPD, Grüne und FDP erkennen die aktuellen Probleme rund um Klimaschutz, Diversität und Digitalisierung und nehmen sich dieser an. Überraschend ist allerdings, wie stark sich die FDP in vielen Punkten durchsetzen konnte, obwohl sie stimmenmäßig die schwächste der drei Parteien ist. Auch hätte man in puncto Klimaschutz von den Grünen mehr erwarten können. Es sind zwar einige gute Vorschläge dabei, aber es fehlt noch an Tempo. Wie die vielen Forderungen und Ziele letztendlich finanziert werden sollen, ist noch nicht ganz klar. Insgesamt hat der Koalitionsvertrag also viele gute Ideen, wirft aber auch einige Fragen auf. Wie viel Fortschritt dann tatsächlich gewagt werden kann, werden wir in Zukunft sehen.
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