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„Das Recht auf Wut besteht für alle“ – Hilal Tavsancioglu im Gespräch

„Das Recht auf Wut besteht für alle“ – Hilal Tavsancioglu im Gespräch

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Die Bamberger Archäologiestudentin im Master und Politikerin Hilal Tavsancioglu berichtet über Wut als ihren Gerechtigkeitssinn, ihren Aktivismus und weist auf rassistische Unterscheidungen in der Wahrnehmung von Wut hin.

Dieser Artikel ist Teil der Reihe „Wutentbrannt – FLINTA zwischen Ärger und Antrieb”, in der wir Wut und die unterschiedliche Wahrnehmung von Wut bei Frauen*, Lesben und intersexuellen, nicht binären, trans und agender Personen (FLINTA*) im Vergleich zu cis Männern beleuchten.

Auf Demonstrationen in den letzten Monaten – sei es zur Erinnerung an das Attentat in Hanau oder zum feministischen Kampftag – hast du in Redebeiträgen deine Wut thematisiert. Wie wichtig ist Wut für dich im Alltag und in deinem politischen Engagement?

Hilal Tavsancioglu: Wut ist der Grund gewesen, warum ich politisch aktiv geworden bin. Im Jahr 2014 war ich aufgrund der Berichterstattung zum Mord an Michael Brown sehr wütend – da habe ich viel recherchiert. Auch 2020 hat man durch Corona und damit die verbundenen täglichen Neuerungen verstärkt die Nachrichten mitbekommen und das hat mich sehr politisiert. Die von mir erlebte Wut ist für mich in erster Linie ein Zeichen der Selbstliebe. Sie zeigt mir, dass sowohl ich mir selbst wichtig bin, aber auch, dass andere mir nicht gleichgültig sind. Dabei meine ich natürlich keine aggressive oder gewaltvolle Wut. Ich verstehe die Emotion als meinen Gerechtigkeitssinn. Sie signalisiert mir, dass etwas nicht stimmt. Sei es ein CSU-Politiker, der sich auf Social Media mehrfach offen rassistisch und menschenfeindlich äußert. Oder die Art und Weise, wie mit dem Thema Armut in diesem Land umgegangen wird und Menschen dem Profit untergeordnet werden. Wut zeigt mir: Da ist Handlungsbedarf! Dementsprechend ist es mir sehr wichtig, dass ich diese Emotion nicht negiere. Stattdessen will ich ihr zuhören, sie als ein Teil meiner Menschlichkeit akzeptieren und aktiv werden.

Hilal bei ihrem Redebeitrag an der diesjährigen Mahnwache zum rassistischen Attentat in Hanau 2020. Fotos: Kim Becker
Wie drückt sich dieser Umgang mit der Wut aus?

Ich fand es lange Zeit schwer einen Umgang zu finden – auch durch die Sozialisierung als FLINTA*-Person. Ich habe aber festgestellt, dass das Ausruhen auf der eigenen Wut nur dazu führt, dass sie sich vermehrt. Dann besteht irgendwann die Gefahr, dass dich das Gefühl komplett einnimmt. Das wollte ich nicht, weil mich viel mehr ausmacht, als meine Wut. Ich habe für mich und als Ventil für meine Wut beschlossen, verbundene Gefühle der Unzufriedenheit und Hoffnungslosigkeit nicht länger zu akzeptieren und meine Emotionen in etwas Produktives zu kanalisieren. Bei mir waren das anfangs aktivistische Gruppen hier in Bamberg. Das habe ich schnell mit Parteipolitik verbunden. Seitdem habe ich täglich was zu tun – als Sprecherin, Direktkandidatin und Spitzenkandidatin Oberfrankens für meine Partei, DIE LINKE. Da habe ich das Gefühl, dass ich meine Wut sinnvoll für positive politische Veränderungen einsetzen kann.

Wut zeigt mir: Da ist Handlungsbedarf!

Weil politisches Engagement Kraft kostet, nutze ich daneben Musik als energetischen Ausgleich. Seit meiner Schulzeit bin ich sehr musikalisch, weil ich auf einem musischen Gymnasium war und stundenlang musiziert, mein Instrument und Musiktheorie gelernt habe. Das geht heute zeitlich leider nicht mehr derart intensiv, aufgrund meiner Masterarbeit, Nebenjob und der Politik. Geblieben ist aber das Musikhören. Ein Tag, an dem ich keine Musik höre, ist ein Tag, an dem ich mich unausgeglichen fühle. Mitsingen gehört unbedingt dazu. Das macht mich einfach glücklich und ich kann meine Emotion ausleben. Dadurch habe ich den Eindruck, dass ich auch meine Wut, die sich nicht immer einfach abschalten lässt, mit etwas Positiven verknüpfen kann.

Ansonsten ist mein soziales Umfeld meine Stütze. Menschen, die mich kennen und bei denen ich frei ich selbst sein kann und auch mal meine fünf Minuten haben darf, in denen ich mich und meine Wut auslassen kann. Dann ist es ausgesprochen, staut sich nicht in mir an und danach ist das Handeln wieder einfacher.

Wir bauen unsere Themenreihe darauf auf, dass FLINTA* abgesprochen wird, wütend sein zu dürfen und thematisieren, dass die Wut von FLINTA* klein geredet und belächelt wird. Kannst du dich in dieser Beschreibung wiederfinden?

Auf jeden Fall. Wütende FLINTA* werden nicht nur klein geredet und belächelt. Oft wird ihnen auch ihre Feminität abgesprochen. Ich merke, dass Wut nicht als etwas Schönes anerkannt wird, sondern als maskuline Emotion. Eine wütende FLINTA*-Person widerstrebt vielen Stereotypen, die wir ihr im Patriarchat zugeschrieben haben. Nur, weil ich gerade Wut empfinde, heißt das nicht, dass ich ein grundlegend wütender Mensch bin. Dennoch höre ich oft Aussagen, die FLINTA* darauf reduzieren. Wie viele von uns als zickig, schwierig oder bossy bezeichnet wurden, nur weil sie ihre Wut nicht heruntergeschluckt, sondern zu Ausdruck gebracht haben. Bei Diskussionen werden dann abseits vom Thema Nebenschauplätze aufgemacht, die sich über unsere Wut beschweren. Man bekommt direkt den Stempel einer emotionalen, hysterischen Frau*, während Wut bei Männern oft auf die äußeren Umstände geschoben oder kontextualisiert wird. Aber das Recht auf Wut besteht für alle.
Ich denke sehr häufig über dieses Thema nach und ich finde, wir sollten öfter darüber reden, dass wir Emotionen unterbewusst in Feminität und Maskulinität aufteilen. Ich frage mich, ob das wirklich so sein muss und wieso für viele Maskulinität gleich Männlichkeit und Feminität gleich Weiblichkeit bedeutet. Emotionen haben kein Geschlecht.

Nur, weil ich gerade Wut empfinde, heißt das nicht, dass ich ein grundlegend wütender Mensch bin.

Du hast die Wahrnehmung deiner Wut angesprochen. Welche Rolle spielt dabei, dass du eine Person of Colour (PoC) bist?

Ich habe das Gefühl, dass sich die Rolle in kleinen Situationen zeigt. Wenn ich im Alltag neutral schaue, kommt beispielsweise oft die Nachfrage, ob alles okay mit mir ist. Das hat an sich nichts mit Wut zu tun, aber in Zuge dessen werden Diskussionen, an denen ich proaktiv beteiligt bin, als Streit betitelt. Wenn ich mal einer Position oder Meinung nicht zustimme und argumentativ dagegenhalte, werde ich als zu laut und einschüchternd bezeichnet. Und dabei schreie ich nicht oder werde nicht persönlich. Wenn ein Mann das tut, beobachte ich diese Reaktion nicht so häufig. Ich bin nicht einschüchternd, mein Gegenüber ist eingeschüchtert. Ich bin oft nicht mal wütend und mir wird Wut zugeschrieben. Genau das ist dann oft der Punkt, an dem ich erst wütend werde!

Außerdem habe ich die Wahrnehmung, dass ich nicht öffentlich wütend sein oder erscheinen darf, weil das in die Hände derjenigen spielen würde, die nicht frei von ihren Vorurteilen gegenüber PoC sind. Da wird rassistisch pauschalisiert und das möchte ich auf keinen Fall fördern. Entsprechend verhalte ich mich in der Regel so, dass man mir die Wut nicht zuschreiben kann – beispielsweise versuche ich besonders ruhig zu sprechen oder ich verstelle meine Mimik von neutral zu positiv. Aber fair finde ich das nicht.

Die Demo-Teilnehmer*innen der diesjährigen Mahnwache zum rassistischen Attentat in Hanau 2020 hören Hilal aufmerksam zu.
Wie unterscheidet sich die Wahrnehmung von Wut weißer Aktivist*innen in der Öffentlichkeit?

Das zeigt sich gut beim Thema Rassismus. Rassismus löst in mir eine furchtbare Wut aus, weil er so ungerecht ist. Wenn ich mich zu rassistischen Äußerungen und Taten wütend zeige, ist die Reaktion auf meine Wut oft heftig: Ich bekomme von weißen Mitmenschen Dinge zu hören wie: „Jetzt reg dich nicht so auf. Musst du denn jetzt die Rassismus-Keule schwingen? Ist doch gar nicht so gemeint.“ Dabei bin ich überzeugt, dass People of Colour Rassismus am besten wahrnehmen können.

Auf der anderen Seite ist mir auch aufgefallen, dass ein*e weiße Aktivist*in, wenn er*sie sich über Rassismus wütend zeigt, gefeiert wird. Wir brauchen weiße Allys im Kampf gegen Rassismus aus vielen Gründen – allen voran, dass PoC Rassismus nicht erfunden haben, ihn nicht strukturell im Alltag begünstigen und weiße Menschen nun mal in der heutigen Zeit immer noch mehr Gehör finden als PoC. Ich will die Wut der weißen Aktivist*innen auch nicht klein reden. Jede*r hat das Recht wütend zu sein. Aber ich sehe einen eindeutigen Unterschied in der Wahrnehmung von Wut, die nicht nur daran festgemacht wird, ob man FLINTA* ist, sondern auch an der Ethnie, Hautfarbe, Religion etc. – da sind wir beim Punkt Intersektionalität (Anm. d. R. Zusammenwirken mehrerer Unterdrückungsmechanismen).

Ich habe so oft den Eindruck, dass von FLINTA* of Colour gefordert wird, dass sie ihre Wut ruhiger und sachlicher als Weiße zum Ausdruck bringen sollen, um gehört und als Menschen respektiert zu werden. Das finde ich ungerecht! Aus diesem Grund bin ich politisch aktiv und versuche nicht nur mehr Repräsentation in politischen Führungspositionen zu bewirken, sondern ich sehe zudem die große Notwendigkeit der Aufklärung zu Themen wie Rassismus, Sexismus und intersektionalem Feminismus.

Ich habe so oft den Eindruck, dass von FLINTA* of Colour gefordert wird, dass sie ihre Wut ruhiger und sachlicher als Weiße zum Ausdruck bringen sollen, um gehört und als Menschen respektiert zu werden.

Welchen Einfluss hat diese rassistische Wahrnehmung der Emotion Wut auf deine eigene Wut?

Sie verstärkt sie. Aus dem einfachen Grund, dass es nicht fair ist. Wenn man erst mal die eigene Wut gegenüber anderen legitimeren muss, darauf vorbereitet sein muss, sie zu verteidigen und dann noch einfühlsam und zurückhaltend sein soll, wenn sich andere über das gleiche aufregen – dann wird das oft zu viel.

PoC werden in die Verantwortung gezogen, ihre eigene Wut zurückzuschrauben und gleichzeitig die Wut der Weißen, insbesondere bei dem Thema Rassismus, zu validieren. Aber wer validiert unsere Wut, außer uns selbst?

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