Du liest gerade
Lies Mich: Ein ganzes Leben
Dunkel Hell

Lies Mich: Ein ganzes Leben

  • Wer Bücher liebt, muss diesen Roman lesen. Robert Seethalers Bestseller ist ein Meisterwerk.

Ein abgelegenes Alpental in Österreich, ein Waisenjunge und sein Leben. Robert Seethalers Roman „Ein ganzes Leben“ kommt mit diesem sehr überschaubaren Plot aus. Wie im Titel versprochen erzählt das Buch das komplette Leben des österreichischen Bauernjungen Andreas Egger.

Es ist die Geschichte eines einfachen Mannes, der nur dürftig lesen und schreiben kann und den irgendwann der Fortschritt überholt. Egger wird kurz vor 1900 geboren und erlebt das 20. Jahrhundert vom Kaiserreich bis zur Republik, vom Pferdefuhrwerk bis zum Dieselmotor, von der Öllampe bis zur Glühbirne. Mit dem Bau der ersten Luftseilbahn in Eggers Heimattal hält auch dort der Fortschritt Einzug. Als junger Mann heuert er bei der Baugesellschaft an, schlägt mit seinem Arbeitstrupp Schneisen in den Wald, bohrt Sprenglöcher in Granitfelsen und gießt Fundamente für Stahlpfeiler.Vor allem in dieser ersten Hälfte des Romans entfaltet sich der ganze Zauber von Seethalers Stil. In unnachahmlicher Sparsamkeit zeichnet er die Welt Eggers unaufgeregt und dabei überraschend plastisch.

Bei Seethaler ist kein Wort zu viel, keines zu wenig und jedes sitzt an seinem Platz. Er weiß als Drehbuchautor und Schauspieler um die Kraft weniger Worte und die Wirkung einfacher Bilder. Zu kitschigen oder schnulzigen Phrasen lässt er sich nie hinreißen.So wahrhaftig, so unverstellt wirkt Eggers Zuneigung, wenn er beim Anblick der rosigen Haut seiner Freundin Marie an „weiche, nach Erde, Milch und Schweinemist duftenden Bäuche“ frischgeborener Ferkel denken muss. So herzerweichend unbeholfen ist er, wenn er sich bemüht, ihr Gesicht „so behutsam, wie man ein Hühnerei oder ein frisch geschlüpftes Küken anfasst“ zu berühren.
Seethalers Maxime, viel mit wenigen Worten auszudrücken, wird im zweiten Teil auf die Spitze getrieben. Schicksalsschläge des späteren Lebens Eggers, seine eisigen Jahre als Gebirgsjäger im Kaukasus und als Kriegsgefangener im russischen Arbeitslager werden fast lakonisch abgehandelt. Trotzdem verliert man nie die Nähe zum Protagonisten und bei allem Schrecken der Kriegsjahre bleibt es glaubhaft, wenn Egger in einem Brief an Marie schreibt: „Aber ich will nicht klagen. Manch einer liegt steif und kalt im Schnee, während ich mir immer noch die Sterne anschaue.“ Als völlig Seethaler-untypischer Kalenderspruch ausgedrückt: Wenn das Leben Andreas Egger Zitronen gibt, macht er Limonade draus.

Bei Eggers Rückkehr in sein Heimattal ist nichts mehr wie es war. Schweineställe wurden zu Fremdenzimmern, die Straßen sind jetzt geteert und bunte Automobile erfüllen das Tal mit ihrem Lärm. Egger hat als alter Mann seine Unbekümmertheit verloren und weiß sich doch mit allem zu arrangieren. Aus den wenigen Worten, mit denen Seethaler Eggers letzte Jahre beschreibt, spricht eine tiefe Traurigkeit, gepaart aber immer noch mit der absoluten Anspruchslosigkeit eines Mannes, der in einfachsten Verhältnissen aufgewachsen ist.

Seethaler gelingt es in dem nur 180 Seiten fassenden Roman auf grandiose Weise, eine emotionale Bindung zwischen Leser und Hauptfigur herzustellen. Er schreibt gerade so viel, dass die Geschichte authentisch wirkt und so wenig, dass die Fantasie des Lesers genügend Raum findet. Unaufdringlich angeleitet von Seethalers Sätzen entstehen im Kopf Bilder, die kein HD-Film schärfer zeigen könnte. Dafür wurden Bücher erfunden.

Kommentare anzeigen (0)

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.