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Bamberger Ankerzentrum: Vom Warten auf die Zukunft

Bamberger Ankerzentrum: Vom Warten auf die Zukunft

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Ankereinrichtung Oberfranken in Bamberg
Eigentlich ist die Ankereinrichtung Oberfranken (AEO) für 1500 Asylbewerber*innen ausgelegt. Doch im Februar 2023 leben mehr als 2200 geflüchtete Menschen in der Aufnahmestelle im Bamberger Osten. Juri, Anne (Namen auf Wunsch hin geändert) und Zahar sind drei von ihnen – und zeigen ihr Zuhause auf Zeit.

Disclaimer: Dieser Text entstand im Februar 2023. Alle Gespräche und Beschreibungen stammen aus dieser Zeit. Aber auch heute noch ist das Ankerzentrum überbelegt. Aktuell leben etwa 2000 Menschen in der AEO.

Bamberg. Im Oktober 2022 sperrt Juri jeden Morgen Kleidung in seinen Koffer, fädelt ein Fahrradschloss durch den Griff und schließt ihn am Bettgestell an. Seine Wohnung teilt der 30-Jährige damals mit zehn Fremden, mit zwei von ihnen ein Zimmer. Sie würden sich Heroin spritzen, Gestohlenes mitbringen, sein Essen nehmen. Eines Nachts sei sein Bettnachbar auf Entzug gewesen: „Er hat gezittert und sich übergeben. Es war Horror. Besonders, weil sein Bett nur einen Meter von meinem entfernt stand.“ Juri habe dort gelegen und gewusst: „Ich muss hier weg.“

Dabei sollte die Ankereinrichtung Oberfranken ein Zufluchtsort werden – für Juri und mehr als 2200 Menschen, die mit ihm im Februar 2023 in den blassgelben Häuserreihen leben. Einst waren dort US-amerikanische Soldat*innen mit ihren Familien stationiert. Daran erinnern heute nur noch NEMA-Steckdosen im Büro des AEO-Leiters Markus Oesterlein. Die Grundidee des Ankerzentrums sei, dass Asylverfahren schneller durchlaufen werden, erklärt er. Deshalb sind alle wichtigen Behörden, die Ankunft, Entscheidung und Rückführung (AnkER) von Flüchtlingen regeln, in der ehemaligen Kaserne untergebracht.

Kriegsdienstverweigerer, Zeugen Jehovas und LGBTQ+

Ein Plan in Oesterleins Büro zeigt das Gelände, auf dem zu Normalzeiten nicht mehr als 1500 Menschen untergebracht werden sollen. Wieder mehr Menschen fliehen aus Syrien und seit dem Krieg in der Ukraine habe sich das Spektrum an Fluchtgründen aus der Russischen Föderation im Vergleich zu den Vorjahren deutlich erweitert. „Schon lange gibt es asylsuchende Zeugen Jehovas, die in Russland als Religionsgemeinschaft verboten sind, und LGBTQ-Fälle“, erzählt Oesterlein. Mittlerweile lebten auch viele russische Familien und junge Männer, die den russischen Kriegsdienst verweigern, in der AEO. Auch Juri entging der Mobilmachung für „Putins kriminellen Krieg“, wie er sagt. Oesterlein resümiert: „Normale Zeiten haben wir einfach nicht.“ Wo einst eine amerikanische Familie gelebt hat, teilen sich deshalb heute durchschnittlich 10 bis 12, teilweise bis zu 16 Menschen ein Bad und eine Küche. Meist bleiben sie zwei bis drei Monate.

Das Wohnzimmer ist für viele das „Café Willkommen“ – eine gewöhnliche Wohnung in Gebäude 2, die Ehrenamtliche vom Verein „Freund statt Fremd“ zu einem Ort der Begegnung gemacht haben. Am Eingang stapeln sich Schuhe, im Treff riecht es nach frischgekochtem Kaffee. Joelle Vormann-Pfeifer sitzt an einem Tisch, an dem sonst Beratungsgespräche stattfinden oder Formulare ausgefüllt werden, und betont: „Es ist hier nicht alles schlecht.“ Sie spricht schnell. Nach beinahe jedem Satz blickt sie zum Flur, den Schmetterlinge aus Transparentpapier zieren. Sieben Männer warten nebenan, um mit ihr Deutsch zu üben. „Sie sind voll motiviert, die Sprache zu lernen“, sagt Vormann-Pfeifer. Aber es gebe nicht genügend Unterrichtsstunden für die vielen Asylsuchenden. Die Leitung sei zwar bemüht, Probleme zu lösen, ebenso wie die Ehrenamtlichen. „Aber es sind einfach zu viele Leute.“

Warten, warten, warten

Die Konsequenz? „Warten“, sagt Zahar, der seit Anfang Oktober 2022 im Ankerzentrum lebt. Er sitzt im „Café Willkommen“ neben Anne. Die 30-jährige Moskauerin verstellt die Stimme und sagt: „Bis morgen, bis morgen!“ Dann lacht sie bitter. Eigentlich kann sie kein Deutsch sprechen. Denn Kurse für die Asylbewerber*innen gibt es kaum mehr. Aber die zwei Wörter hat Anne so oft gehört, dass sie sich eingebrannt haben. Sie wartet, bis das Bad frei wird. „Ein Bad für zehn Personen“, Anne stockt, „das ist nicht schön.“ Sie wartet auf die drei Mahlzeiten am Tag. Juri erzählt: „Abends steht man eine Stunde für zwei Stücke Wurst und etwas Brot an.“ Sie wartet auf Tampons oder Rasierer, die einmal wöchentlich ausgegeben werden. Sie wartet auf etwa 130 Euro Taschengeld, das ihr die Stadt Bamberg monatlich auszahlt. Sie alle warten, wie ihr Leben weitergeht.

Juri sagt: „Meine größte Hoffnung ist, einen Job in Deutschland zu finden.“ In seiner Heimatstadt Tscheljabinsk habe er die Qualitätsabteilung eines Technologiekonzerns geleitet und an seiner Doktorarbeit geschrieben. Anne möchte Lehrerin werden. Nun gehen sie wie die anderen Asylbewerber*innen täglich zu einem Schaukasten im „Camp“, wie die Bewohner*innen die AEO nennen, und sehen nach, ob sie endlich ein erstes Interview beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) haben. Seit vier Monaten steht Juris Name auf keiner Einladungsliste (Stand Februar 2023). Immerhin seine Steuer-ID habe er schon per Post bekommen, erzählt er lachend. „Das ist super! Das Ziel ist, in Deutschland Steuern zahlen zu dürfen.“

Ein Bad für zehn Personen, das ist nicht schön.

Ein Koch ohne Kühlschrank

Zahar ist seinem Wunsch, wie in seiner Heimat als Koch arbeiten zu dürfen, schon etwas nähergekommen. Im Frühjahr hat er zum ersten Mal für die Ehrenamtlichen und Geflüchteten gekocht – in der Blauen Frieda, einem Begegnungsort vom Verein „Freund statt Fremd“ an der Schützenstraße. Denn in seiner Wohnung im Ankerzentrum, die er sich mit sechs weiteren Asylbewerbern teilt, hat der Koch keinen Kühlschrank.

Juri dagegen zeigt dankbar seinen Kühlschrank und meint: „Wir haben Glück.“ Anfang des Jahres durfte er aus dem „Horror“, wie er die Zeit in seiner ersten Wohnung nennt, ausziehen und lebt seitdem bei Freunden in Gebäude 6. Auf seinem schmalen Gesicht macht sich ein Lächeln breit: „Es ist großartig, dass du dein Apartment einfach wechseln darfst.“ Juri greift in die Tasche seiner grauen Jogginghose und zieht seinen Bewohnerausweis heraus: Der Hausverwalter hat Tipp-Ex über die alte Adresse gepinselt und mit Kugelschreiber eine 6 eingetragen.

An der Wohnungstür streift er sich seine schwarzen Sneaker ab. „Die habe ich von der Kleiderkammer“, sagt er, „aber ich mag sie nicht so.“ Sich nochmal dort anzustellen hat er wegen der langen Schlangen aufgegeben. Den Holzboden in seiner neuen Unterkunft haben unzählige Schritte dunkel und rau werden lassen. Flecken an den weißen Wänden zeugen von den vielen Händen, die sie berührt haben. Mehr als 100 Geflüchtete haben in den vergangenen siebeneinhalb Jahren in der Wohnung gelebt. Umfangreiche Sanierungen seien kaum möglich, bedauert Oesterlein. „Wir müssen die Zimmer zu schnell wiederbelegen.“ Notwendige Reparaturen würden aber natürlich durchgeführt.

Das Waschbecken: ein Luxus

Juri stört das nicht. Seinen Haferbrei kocht er morgens auf der rostigen Kochplatte, die er sich gekauft hat. Vor seiner Zimmertür geht er in die Knie, greift unter den Türschlitz und zieht ein stumpfes Messer hervor. Den Türgriff hat er entfernt, um sich vor Dieben zu schützen. Denn Türen abzusperren, ist im Ankerzentrum aus Brandschutzgründen verboten. Wo einst die Klinke hing, steckt Juri nun das Messer hinein. Er dreht es leicht nach links, es klickt leise – und die Tür springt auf. Mit einem Schulterzucken meint er: „Es kann eben nichts perfekt sein.“ In seinem Zimmer ist nur Platz für zwei Betten, einen kleinen Wäscheständer und sein Rennrad, das verhindert, dass sich die Tür ganz öffnen lässt. Die feuchte Luft duftet nach blumigem Waschmittel. „Entschuldige das Chaos“, sagt Juri. Dabei ist die blaue Decke auf seinem Bett ordentlich ausgebreitet, das pinke Kissen auf dem Bett seines Zimmergenossen säuberlich drapiert. Nur eine Socke ist vom Wäscheständer gefallen. Eine Tür führt in ein zweites Zimmer, das so schmal ist wie das Bett darin. Das Waschbecken im Raum sei Luxus, schwärmt Juri.

Wenn er die AEO zeigt, spricht er oft wie ein Makler, der für eine Immobilie wirbt. Vor der kleinen Schule meint er: „Alles ist gut organisiert.“ Bei einem der drei Spielplätze sagt er: „Sie sind in einem sehr guten Zustand.“ Wenn er zu den Fenstern der Wohnungen schaut, die Familien bewohnen, meint er sehnsüchtig: „Das sind die besten Wohnungen. Vorhänge vor den Fenstern, sie kochen viel – es ist wie ein Zuhause.“

Wie in einem Gefängnis fühle er sich aber nicht, meint Juri. Für Zahar ist dies anders. Schon bei seiner Ankunft im Oktober sei er irritiert gewesen vom Stacheldraht, der das Gelände umgibt. Oesterlein betont, dieser sei zum Schutz der Asylbewerber*innen. „Das ist leider immer noch notwendig“, sagt er. 2015 hat die Polizei bereits einen rechtsextremen Anschlag auf die Bamberger Unterkunft verhindert. Zahar beklemmt der Ort, der sein Zufluchtsort sein sollte. Er meint: „Es ist nicht mein Zuhause.“  Aber es sei nun einmal der einzige Weg für eine Zukunft. Anne ergänzt: „Für eine Zukunft ohne Krieg.“

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