Simon Groß, geboren im rheinhessischen Mainz, geht mittlerweile als waschechter…
In China wird das ‚e‘ ausgesprochen“, erläutert Xie, als er sich der 14-köpfigen Runde vorstellt. „Hier ist das anders, aber ich habe mich daran gewöhnt.“ – einer der kleineren Unterschiede, die zwischen seiner alten und seiner neuen Heimat liegen. Dort, fügt er stolz hinzu, begegneten die Schulkinder in den Geschichtsbüchern oft seinem Familiennamen. „In China ist er ähnlich bekannt wie in Deutschland der Name Bismarck.“ Sein Urahn Xie An war ein bedeutender Herzog, der während der Jin-Dynastie im 4. Jh. n. Chr. herrschte. Seither hatten die Xies auf unterschiedliche Weise das Land geprägt. Ihm, einem Nachfahren in 56. Generation, bleibt diese Möglichkeit hingegen verwehrt – zumindest innerhalb Chinas.
Denn in sein Heimatland darf Xie seit 1989 nicht mehr zurückkehren. Damals solidarisierte er sich als Vorsitzender des Verbandes der chinesischen Studenten und Wissenschaftler in Deutschland mit der Demokratiebewegung in Peking, deren gewaltsame Niederschlagung heute als Tian’anmen-Massaker bekannt ist. Xie veröffentlichte regimekritische Artikel und setzte sich für die Forderungen der Protestierenden ein: Presse- und Glaubensfreiheit, unabhängige Justiz, gegen Korruption und für Demokratie. Als Reaktion verhängte die chinesische Regierung ein Einreiseverbot gegen den von der südchinesischen Tropeninsel Hainan stammenden Student. Auf die Frage, ob er damals keine Angst vor derartigen Sanktionen hatte, entgegnet Xie bestimmt: „Nein, wir wollten doch etwas bewegen.“ Wenn er nicht ein Jahr zuvor nach Deutschland gekommen wäre, hätte er auch dort gestanden, auf dem Platz am Tor des Himmlischen Friedens – versichert er mit festem Blick. Seit der Zerschlagung der Proteste kämpft Xie auf vielfältige Weise für die Rechte seiner Landsleute. Er rief eine Stiftung für die Opfer des Volksaufstands ins Leben, gründete 1999 die Wochenzeitschrift European Chinese News und ist seit 2006 Herausgeber der Europaausgabe der christlichen Zeitschrift Overseas Campus. Außerdem schreibt er für diverse Blogs im In- und Ausland. Für sein journalistisches Engagement wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet und 2010 sogar in der Liste der Top 100 Chinese Public Intellectuals aufgeführt.
Mein Vater hatte mir einmal gesagt: ‚Frage nicht, was China für dich tun kann, sondern was du für China tun kannst!
Nach Bamberg gelangte der damals 30-Jährige von Peking aus mit dem Zug. Zusammen mit seiner Frau Shenua Xie-Zhang nahm er die Reise auf sich. Für heutige Studentengenerationen schwer vorstellbar hatte er sich für die Stadt an der Regnitz entschieden, weil es hier leicht war eine Wohnung zu finden – die Mietpreise waren niedrig. Und es gab gute Aussichten auf Ferienjobs bei Bosch. Aufgewachsen während der chinesischen Kulturrevolution, hatte er später Deutsch und Englisch studiert und danach als Dolmetscher für VW gearbeitet. Durch ein Germanistikstudium in Deutschland wollte er Sprache und Land noch besser kennenlernen. Sein Vater unterstützte ihn in diesem Vorhaben, war er doch ein großer Freund deutscher Politiker wie Konrad Adenauer. Vor allem dessen Versöhnungspolitik habe ihn fasziniert, erzählt Xie. Er hatte nie verstanden, warum sich Japaner und Chinesen nicht genauso aussöhnen konnten wie es Franzosen und Deutsche nach Ende des Zweiten Weltkriegs getan hatten. Xie selbst ist der Meinung, dass eine Art Schiedsrichter in Form eines gemeinsamen Glaubens fehlt. Es sei wie bei einem Fußballspiel: Ohne eine unparteiische Instanz, die über den Spielstand entscheidet, sei es schwierig zu einem fairen Ergebnis zu kommen. Ein geteiltes Wertefundament sei von großer Bedeutung, um sich gegenseitig verstehen und letztlich auch vergeben zu können.
Chinesen schätzen Autorität. Das macht sich schon in der Familie bemerkbar
Das in Europa tief verwurzelte Christentum schaffe durch seine Friedensbotschaft ohnehin eine gute Grundlage dafür. Auch die Demokratie ist für Xie ohne den christlichen Glauben nicht denkbar. Das friedliche Streben nach Konsens, Toleranz, die Fähigkeit Kompromisse zu finden; all das stecke letztlich auch in den christlichen Werten. Er ist fest davon überzeugt, dass der friedliche Charakter der aktuellen Proteste der Regenschirm-Bewegung in Hongkong damit zusammenhängt:
„In der ehemaligen britischen Kolonie sind die Menschen christlich geprägt, sie haben ein demokratisches Bewusstsein. Sie haben konkrete Vorstellungen und wissen genau wofür sie kämpfen – und zwar ohne Gewalt.“ Das seien zentrale Unterschiede zum Volksaufstand von 1989. Damals sei die Bewegung eher spontan entstanden, aus einer allgemeinen Unzufriedenheit heraus und eben auch nicht völlig gewaltfrei. Doch an einen Erfolg der Studenten und Bürgerrechtler aus Hongkong glaubt Xie trotzdem nicht, denn die Regierung verfüge über zwei entscheidende Druckmittel: Zum einen schrecke sie nicht davor zurück auch in der Sonderverwaltungszone militärische Mittel einzusetzen, zum anderen würde die Trinkwasserversorgung durch Peking kontrolliert. „Demokratisierung ist immer ein langer Prozess, eine wirkliche Verbesserung der politischen Lage kann nur schrittweise durch einen Wandel innerhalb der Partei und des Militärs erfolgen.“ Diese Erfahrung hatte er schon früher gemacht: als seine Hoffnung, die Olympischen Spiele würden zu einer Öffnung des Landes führen, enttäuscht wurde. Einen ehemaligen Kommilitonen, der nun in der Regierung arbeite, habe er einmal darum gebeten einen Antrag einzubringen. Dieser hatte lediglich zum Ziel ungestraft über die Ereignisse von Tian’anmen diskutieren zu dürfen; der Minister wich geschickt aus.
Mit der Demokratie selbst sei es in China sowieso keine leichte Sache. „Chinesen schätzen Autorität. Das macht sich schon in der Familie bemerkbar. Ich habe meinem Sohn erst zu seinem 18. Geburtstag erlaubt ein Handy zu besitzen. Bis dahin durfte er abends nur zu besonderen Anlässen länger wegbleiben – und er hat es akzeptiert“, schmunzelt Xie.
Nein, so billig will ich mich nicht verkaufen.
Weniger Verständnis hat er dagegen für die westliche Sicht auf China: „Die Medien berichten viel über das enorme Wirtschaftswachstum, dabei wird das nicht ewig so weitergehen. Eigentlich steckt das Land schon längst in einer Krise, in einer Identitätskrise.“ Die sozialistische Diktatur der Kommunistischen Partei habe das Land entwurzelt und es seiner althergebrachten Werte beraubt. „Die Chinesen fühlen sich orientierungslos, sie wissen nicht, woran sie sich halten sollen.“ Xie hat im evangelischen Glauben Halt gefunden und versucht den Menschen in seiner Heimat dieselbe Perspektive aufzuzeigen. Mittlerweile besuchten sogar ein paar Parteimitglieder die freie Kirche. Aus einem buddhistischen und taoistischen Umfeld stammend hat er festgestellt, dass sich die religiösen Grundsätze sehr ähneln.
In sein Herkunftsland würde er trotz allem gerne zurückkehren, um dort eine Tages- oder Wochenzeitung aufzumachen. Und das wäre sogar möglich: Allerdings nur unter der Bedingung ein umfassendes Reuegeständnis abzulegen, außerdem würde er ständig überwacht. „Damit müsste ich alles, was ich seit 1989 geschrieben habe zurücknehmen – nein, so billig will ich mich nicht verkaufen.“ Statt zu resignieren entschied sich Xie zukünftig nicht nur für seine alte, sondern auch für seine neue Heimat politisch aktiv zu werden. „Mein Vater hatte mir einmal gesagt: ‚Frage nicht, was China für dich tun kann, sondern was du für China tun kannst!‘“ Xie wandelte das berühmte Zitat abermals um und beschloss nicht danach zu fragen, was seine neue Heimat für ihn tun könne. Nachdem er 2010 deutscher Staatsbürger wurde, kandidierte er bei den Kommunalwahlen im März letzten Jahres für die CSU. Mit einem Spitzenergebnis schaffte er den Einzug in den Bamberger Stadtrat, die meisten Stimmen für die CSU entfielen auf ihn.
Derzeit befassten sich die Stadtvertreter mit den Plänen für das Konversionsgelände der ehemaligen U.S. Kaserne, berichtet er am Ende. Xie ist zuversichtlich, egal wie das Terrain letzten Endes genutzt wird – Platz für einen kleinen China-Imbiss gebe es dort bestimmt.
Simon Groß, geboren im rheinhessischen Mainz, geht mittlerweile als waschechter Bamberger durch. Er schreibt seit 2013 für den Ottfried und kann sogar noch von den Partys im Morphclub berichten. Sein journalistisches Interesse gilt Politik, Gesellschaft und Wirtschaft – obwohl er VWL studiert.