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Von Wahrheit, Moral und Trainingsanzügen – Kristina Greif und Frederic Heisig über “1984”
Dunkel Hell

Von Wahrheit, Moral und Trainingsanzügen – Kristina Greif und Frederic Heisig über “1984”

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  • Mit einer ganz eigenen Inszenierung des Romans “1984” von George Orwell überzeugte das Ensemble des Wildwuchs Theaters bei der Premiere am 24. Mai 2023. Das Stück ruft dabei einige Fragen hervor: Was passiert, wenn totalitäre Systeme vorherrschen? Was ist Wahrheit? Und was ist Moral? Wir haben Schauspielerin Kristina Greif und Regisseur Frederic Heisig zum Interview getroffen.

Könnte man 1984 auch durch 2023 ersetzen?

Frederic: Bei dem Buch besteht die Gefahr, dass es auf alles angewandt wird, was irgendwie in diese Richtung geht. Ich würde sagen, wir leben nicht in dieser Welt. Es gibt aber sicherlich Entwicklungen, die sehr gut dazu passen, wie zum Beispiel die zunehmende Überwachung. Das birgt Gefahren in sich. Das Buch kann uns vor solchen Szenarien warnen und ein Bewusstsein für Entwicklungen schaffen, die gerade im Gange sind. Aber ich würde nicht sagen, dass es unsere Welt eins zu eins beschreibt.

Du hast von Gefahren gesprochen. Welche Gefahren siehst du aktuell konkret?

Frederic: Wie gesagt, die Überwachung. Die Technik mit künstlicher Intelligenz und Datenverarbeitung, die rasant fortschreitet. Oder das Social Credit System in China (Anmerkung der Redaktion: Das Social Credit System stellt einen Versuch der totalen Kontrolle der Bevölkerung in China dar, indem Punkte für “wünschenswertes” Verhalten vergeben werden). Das sind alles Strukturen, die vor einiger Zeit noch in den Bereich von Science Fiction oder Dystopie gefallen sind und heute technisch machbar sind. Man sieht auch international, dass autoritäre Staaten und Regime wieder im Kommen sind oder dass in Deutschland die AfD anscheinend wieder Zuspruch bekommt. Das sind alles Sachen, bei denen die Alarmglocken läuten sollten. Denn in den falschen Händen könnte unsere Welt natürlich schon in ein ähnliches Szenario abrutschen. Das wäre technisch sogar einfacher machbar als damals in der Dystopie von 1984.

Kristina: Ich finde dazu auch einen Satz im Stück sehr bezeichnend. Da wird gesagt, dass sich die Menschen in dem Moment, in dem eine freie und gerechte Gesellschaft denkbar geworden ist, wieder autoritären Systemen zugewandt haben. Ich glaube, das ist so ein bisschen das Ding, dass man das teilweise als zu selbstverständlich ansieht und gar nicht merkt, was man an der freien Gesellschaft hat.

Im Stück geht es viel um Wahrheit. Was versteht ihr unter Wahrheit – gibt es sie überhaupt?

Frederic: Ich habe jetzt keinen objektiven Wahrheitsbegriff, aber man kann trotzdem nicht einfach erzählen, was man will. Aber wenn wir Naturgesetze als Beispiel nehmen: Ich bin mir ziemlich sicher, dass etwas auf den Boden fällt, wenn ich es fallen lasse. Im Gesellschaftlichen halte ich Wahrheiten aber eher im demokratischen Sinne für besser. Ich bin immer ganz hellhörig, wenn jemand meint, er hätte die Wahrheit gepachtet. Ich denke, das sollte man eher im Konsens und im Diskurs lösen als zu sagen: „So ist es.“

Also meinst du, dass man sich gemeinsam auf eine Wahrheit einigt? Ist Wahrheitsfindung ein dynamischer Prozess?

Frederic: Genau. In dem Stück gibt es diesen schlagkräftigen Satz: “Wenn die Partei sagt, dass zwei und zwei fünf sind, dann ist das so.” Das ist in diesem System eine objektive Wahrheit. Das System ist aber abstrakt und hat einen Absolutheitsanspruch. Wenn Menschen darin Sachen anzweifeln, haben sie verloren. Dieses System akzeptiert keinen Diskurs, in dem eine Wahrheit im Konsens gefunden werden könnte.

Kristina: Man kann nicht von einem reinen Konstruktivismus ausgehen. Also, dass die Wahrheit irgendwie entsteht und man deshalb alles sagen kann und alles irgendwie wahr ist. Das verwässert den Begriff der Wahrheit. Man hat diese Diskussion auch oft im wissenschaftlichen Bereich, wo Leute enttäuscht sind, wenn sie nicht die Antwort darauf bekommen, was jetzt richtig ist. Es ist ein Prozess, in dem man sich immer wieder an eine Wahrheit annähert. Aber das sollte kein beliebiger Prozess sein, der von einem autoritären System bestimmt wird.

Du hast von Annäherung gesprochen. Also gibt es eine Wahrheit?

Kristina: Als Beobachter hat man da eine Perspektive, die man nie wegbekommt. Das ist auch bei den Figuren im Stück so, wenn sie sich erinnern. So funktioniert einfach unser Gehirn. Es ist nicht so, als wären wir ein Tonbandgerät, auf dem alles abgespeichert ist, sondern wir konstruieren unsere Erinnerungen auch immer wieder neu. Das ist schwierig, weil sich Erinnerungen auch manipulieren lassen.

Die Figur Winston aus dem Stück beruft sich immer wieder auf ihre Erinnerung. Wenn Erinnerungen manipulierbar sind, kann man sich dann auf sie verlassen?

Frederic: Da ist es ein Unterschied, ob man sich auf Naturwissenschaften beruft, oder ob es persönliche Erinnerungen sind. Bei Letzteren gibt es tatsächlich psychologische Studien, die zeigen, wie selektiv Erinnerungen sind, wie man durch Emotionen und das Weltbild geprägt wird und wie leicht man sich davon beeinflussen lässt. Deshalb würde ich sagen, dass Erinnerungen nicht objektiv und dadurch manipulierbar und instrumentalisierbar sind.

Kristina: Das sieht man auch auf staatlicher Ebene: Wie Geschichte erzählt wird. Da gibt es manchmal verschiedene Perspektiven. Im Stück gibt es zum Beispiel Eurasien und Ostasien und je nachdem wie sie gerade zu der jeweils anderen Macht stehen, wird die Geschichte eben umgeschrieben. Autoritäre Systeme betreiben gerne Geschichtsrevisionismus, um die Leute „richtig“ denken zu lassen.

Auch Freiheit ist ein zentrales Thema in dem Stück. Was bedeutet der Begriff der Freiheit für euch?

Kristina: (lacht) Freiheit ist zu sagen, dass zwei und zwei vier sind!

Frederic: Den Freiheitsbegriff finde ich in einigen aktuellen gesellschaftlichen Diskursen problematisch. Was viele Leute nicht verstehen oder nicht mit einbeziehen, ist, dass es Freiheit als Abstraktum nicht gibt. Es ist immer die Freiheit von etwas. Jede Freiheit bedeutet für irgendjemand eine Einschränkung, etwas zu tun. Auch da kann man nur im Diskurs versuchen, eine größtmögliche Freiheit für alle herzustellen. Ein Tempolimit auf Autobahnen ist zum Beispiel natürlich eine Einschränkung, weil ich nicht mehr so schnell fahren kann, wie ich will. Es kann aber auch Freiheit für Leute bedeuten, die ohne das Limit Opfer von Unfällen geworden wären. Die CO2-Einsparung dadurch bedeutet auch Freiheit für zukünftige Generationen, wenn sie nicht unter enormen Einschränkungen in einer lebensfeindlichen Welt leben müssen. Ein großes Problem ist meiner Meinung nach ein verzerrter und ideologisierter Freiheitsbegriff.

Kristina: Ja, oder auch ein Freiheitsbegriff, bei dem Leute ganz naiv sagen: „Freiheit bedeutet, ich darf alles jederzeit sagen.“ Wenn das Recht auf freie Meinungsäußerung bedeutet, alle möglichen Menschen zu beleidigen oder zu diskriminieren, finde ich das einen sehr schwierigen Freiheitsbegriff. In dem Moment beschneide ich die Freiheit von anderen Menschen, wenn diese ohne Beleidigungen und Diskriminierung frei leben möchten.

Was wäre dann der „richtige“ Freiheitsbegriff?

Frederic: Das muss man diskursmäßig lösen. Ich persönlich würde sagen, das Recht auf freie Meinungsäußerung, das auch im Stück die zentralste Rolle im Freiheitsbegriff spielt, ist auch das essentiellste in unserer Welt. Wenn man Regierungen offen kritisieren und zum Beispiel Essays schreiben und Ansichten begründet äußern kann, dann ist schon viel gewonnen. Daraus ergeben sich auch Dinge wie freie Berufswahl oder freie Entscheidungen über den Körper. Wobei da auch manchmal Prinzipien aufeinandertreffen, bei denen man abwägen muss, welches gerade für uns als Gesellschaft wichtiger ist. Da kann man nicht leicht einen Absolutheitsanspruch ableiten.

Was hat es mit den Trainingsanzügen im Stück auf sich?

Kristina: 1984 hat man die tatsächlich so getragen.

Frederic: In dem Roman tragen die Leute auch so eine Einheitsuniform, die auch als Trainingsanzug dargestellt wird. Wir haben uns dann für ein klassisches 80er-Jahre Outfit entschieden. Auch mit einer offensichtlichen Trashigkeit, um der Schwere entgegenzuwirken. Wir hatten aber tatsächlich erstmal andere, komplett graue Trainingsanzüge. Da haben wir aber festgestellt, dass das ästhetisch vor der weißen Bühne nicht so viel hergibt. Deswegen haben wir uns für dieses kräftigere Design entschieden.

Kristina, was hat die Auseinandersetzung mit der Rolle mit dir gemacht?

Kristina: Es ist ja nicht nur die eine Figur, die ich spiele. Ich bin auch oft in einer Erzählerrolle, um die Leute in diese Welt einzuführen. Dann gibt es noch die Figur der Julia. Sie ist in diesem System groß geworden, hat aber trotzdem diesen rebellischen Charakter. Es ist erstmal schwierig, sich vorzustellen, in einer Welt zu sein, in der alles überwacht wird und in der man jemandem ein Liebesgeständnis per Zettel zustecken muss, weil man Intimitäten gar nicht ausleben darf. Dadurch kommt es auch zu den etwas seltsamen Liebesszenen zwischen Julia und Winston, weil alles Private in diesem System unterdrückt wird.

Durch die Auseinandersetzung ist mir die Freiheit, die ich als Kristina habe, auf jeden Fall nochmal sehr bewusst geworden.

Wie hat sich die Gestaltung des Stücks entwickelt?

Frederic: Wir wollten das Stück schon ganz lange machen. Das Stück ist aber erst seit Kurzem rechtefrei. Dann kam Corona und als sich die Regelungen gelockert haben, dachten wir, das wäre jetzt ein Projekt, das wir endlich angehen könnten. Ich habe dann die Textfassung erarbeitet. Es gibt zwar schon Textbearbeitungen, aber die haben mir alle nicht gefallen. Ich wollte das auch ganz speziell auf unsere Möglichkeiten mit den Räumlichkeiten und dem Personal zusammenstellen. Wir haben daraufhin eine Konzeptionsprobe gemacht und lange geprobt. Allerdings hatten wir erst in den letzten zehn Tagen Ergebnisse, bei denen wir sagen konnten: „Jetzt sind wir da, wo wir hin wollten.” Wir hatten einen langen Vorlauf und dann aber eine kurze Zeit, in der circa 80 Prozent der Ergebnisse wirklich passiert sind.

Wie wird aus einem Roman ein Theaterstück und wie lange dauert das in etwa?

Frederic: Das kann ich so genau nicht sagen, weil ich parallel auch andere Sachen gemacht habe. Das ist aber ungefähr in einem Zeitraum von sieben Monaten passiert. Da habe ich den Roman nochmal gelesen und habe die Passagen ausgewählt, die ich für wichtig gehalten habe. Dabei habe ich auch geguckt, ob sich eine Kontinuität ergibt, also ob man dem Ganzen noch folgen kann. Den Roman habe ich in seiner Reihenfolge schon ziemlich auseinander genommen, indem ich das nicht chronologisch gemacht, sondern die Situation kurz vor Schluss als Ausgangspunkt genommen und mit Rückblenden gearbeitet habe. Dadurch haben sich viele Ebenen parallel weiterentwickelt. Da musste ich immer darauf achten, ob man das verstehen kann. Funktionieren die Szenen auch durch den Medientransfer ins Theater? Wir arbeiten auch mit Erzählerstimmen. Aber das hat eine Grenze. Ein Stück soll ja doch auch theatralisch und situativ sein. Wir haben eigentlich den Großteil meiner Fassung genommen, aber an der Sprache haben wir nochmal einen großen Eingriff vorgenommen und mehr in dieses „Neusprech“ investiert (Anmerkung der Redaktion: “Neusprech” ist im Roman eine eigene von der Partei entworfene Sprache deren Funktion es ist, möglichst reduziert Dinge eindeutig auszudrücken). Aber nicht nur so, wie Orwell das sieht, sondern wir haben auch viele Kunstsprachelemente von Clockwork Orange und aus anderen Bereichen mit aufgenommen.

Hat sich durch das Stück etwas an eurer Einstellung geändert? Zum Beispiel zur Freiheit oder zur Moral?

Kristina: Ich hatte ab und zu einen Knoten im Kopf, wenn ich über Freiheit, Wahrheit, Erinnerung und diese ganzen Dinge nachgedacht habe. Mir ist wieder bewusst geworden, dass das alles gar nicht so einfach ist und es da keine einfachen Antworten gibt.

Frederic: Das Thema Moral finde ich in der Hinsicht spannend. Als Winston und Julia bei O’Brien zu Hause sind, stellt er ihnen die Fragen, was sie alles bereit wären, zu tun, um die Underground Organisation zu unterstützen und das Regime eventuell in einem langfristigen Projekt zu stürzen. Das finde ich schon erstaunlich, wozu sie alles bereit wären. Das sind ganz unsägliche Sachen, wie Kindern Salzsäure in die Augen zu schütten, Krankheiten zu verbreiten oder Morde zu begehen. Das ist eine spannende Frage für einen Widerstand: Was ist sozusagen wichtiger – ein monströses System zu beenden oder sich selbst moralisch richtig zu verhalten? Das ist eine Dilemmasituation, in der ich einfach nicht stecken möchte.

Kristina: Die Figuren sind, denke ich, mit dieser unglaublichen Enge konfrontiert, die dieses System schafft, und wollen da nur noch raus.

In dem Stück und im Roman wird Folter als Verhörmethode eingesetzt. Ist irgendwann ein Punkt erreicht, an dem wir nicht mehr zur Moral fähig sind? Wenn körperliche Leiden zu extrem sind?

Kristina: Ich würde dem nicht unbedingt zustimmen. Es hat sich schon oft gezeigt, dass Menschen, obwohl sie in extremen Situationen waren, trotzdem noch moralisch gehandelt haben. Ich glaube, dass Menschen schon relativ robust sind.

Frederic: Wenn man die Geschichte der Folter sieht, habe ich das Gefühl, man kann Leute so unter Druck setzen, dass sie nahezu bereit sind, alles zu tun. Ob das auf der inneren Seite ist, also, ob sie wirklich glauben, dass das richtig ist, kann ich nicht beurteilen. Aber dass man Menschen zu allem bringen kann, würde ich unterschreiben.

Kristina: Hm, ich finde das schwierig. Wahrscheinlich stimmt beides. Es gibt bestimmt Beispiele in der Geschichte, wo Leute auch absolute Qualen und Folter durchgehalten haben. Gleichzeitig gibt es aber auch Beispiele, bei denen das wunderbar funktioniert hat, jemanden zu etwas zu bringen.

Der Roman 1984 von George Orwell ist ein dystopischer Roman. Warum sollten wir uns mit Dystopien auseinandersetzen?

Kristina: Ich glaube, dass Menschen schon ein bisschen Spaß an Katastrophengeschichten haben. Die ganze Prepper-Szene lebt auch davon, dass sie sich auf einen Ernstfall vorbereitet. Also Menschen, die sich auf atomare Unglücke, Kriege, Seuchen und alles Mögliche vorbereiten. Ich glaube, dass Menschen an sich teilweise Spaß daran haben. Das ist, wie wenn man sich Horrorfilme anschaut und Freude am Grusel hat. Ich denke, das ist einmal diese emotionale Komponente und die andere ist, dass man versucht, Entwicklungen, die in der Gegenwart vor sich gehen, im Extrem weiter zu spinnen. Um zu schauen, worauf das im blödesten Fall hinauslaufen könnte, wenn sich etwas zu extrem fortsetzt.

Frederic: Da würde ich mich anschließen. Dystopien sind sexy, weil es die Leute nicht komplett aus der Realität holt, aber auch nicht in eine Auenland-Fantasy-Welt führt. Da sagen viele, das sei zu weit hergeholt. Dystopien haben etwas mit unserer Realität zu tun, aber sie stimmen nicht mit ihr überein. Gleichzeitig sind sie aber auch eine Warnung, die Gegenwart mal zu betrachten und zu gucken, an welchen Stellen wir aufpassen sollten, dass sie nicht tatsächlich so werden wie in der Dystopie. Utopien – mal als Gegenpol – bieten nicht so viel Stoff für Theater, weil Theater den Konflikt braucht. In einer Utopie, wo alles harmonisch und schön ist, gibt es nicht viel zu sehen.

Ihr habt den „Neusprech“ angesprochen. Ist es auch schon mal passiert, dass ihr das in euren Alltag integriert habt?

Kristina: Wenn, dann bewusst aus Spaß. Aber eigentlich ist „Neusprech“ nicht so, dass es einem so leicht von der Zunge geht, als dass es einem zufällig passieren würde.

Frederic: (lacht) Aber so ein „Doppelplus gut“ oder ein „Entenquak“ ist schon zum Running Gag geworden, muss man sagen.

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