Support Student Journalism!
Du liest gerade
Ist Bildung ein Privileg, Herr Homuth?

Ist Bildung ein Privileg, Herr Homuth?

Avatar-Foto
  • Dieser Artikel ist in gekürzter Form auch in unserer Ausgabe „Barriere“ zu lesen. Hier findet ihr die „Extended Version“:

Eine Studie besagt, dass 79 Prozent der jungen Erwachsenen aus Familien mit mindestens einem*r Akademiker*in als Elternteil studieren, aus Familien mit Eltern ohne beruflichen Abschluss nur zwölf Prozent. Ist Bildung in Deutschland also ein Privileg, das meist nur Kindern aus höhergebildeten Schichten zukommt?

Seit PISA ist der Öffentlichkeit bekannt, dass der Bildungserfolg in Deutschland stark mit der Herkunft zusammenhängt. Kinder mit hochgebildeten Eltern wachsen anders auf, sodass sich ihre Kompetenzen anders entwickeln als die von Kindern aus bildungsfernen Familien. Zusätzlich treffen diese Kinder beziehungsweise deren Eltern sehr unterschiedliche Bildungsentscheidungen – und zwar auch unabhängig davon, wie gut die Kinder in der Schule sind. Wir sehen, dass Kinder aus bildungsnahen Schichten zu einem überwiegenden Teil aufs Gymnasium gehen, während Kinder aus bildungsfernen Schichten, obwohl sie die gleichen Noten haben, deutlich geringere Übertrittswahrscheinlichkeiten dafür haben. Beim Übergang in die Hochschule sehen wir ein ähnliches Muster. Es gibt keine wesentlichen Voraussetzungen, warum Kinder aus Nichtakademikerhaushalten nicht studieren könnten, wir haben ja keine Studiengebühren wie in anderen Ländern und nur wenige zulassungsbeschränkte Studienfächer. Trotzdem entscheiden sich Nichtakademikerkinder mit Abitur häufiger für eine Ausbildung, weil sie und ihre Eltern diese oft als eine sichere Bank wahrnehmen. In der Literatur wird das als die Ablenkungsthese bezeichnet: Das gute Angebot des Ausbildungsmarktes lenkt die Kinder aus den Nichtakademikerhaushalten von der Hochschule ab.

Haben Kinder mit Nichtakademikereltern also nicht zwingend mehr Barrieren als Akademikerkinder?

Es gibt durchaus Barrieren. Je mehr die Eltern also eine aktive Rolle spielen müssen, desto höher sind die Barrieren für Kinder aus bildungsfernen Familien. Wenn der Schulerfolg davon abhängig ist, dass die Eltern nachmittags mit den Kindern zu Hause üben, können Sie sich denken, wer das sein kann. Die alleinerziehende Krankenschwester sicher nicht. Auch jedes Mal, wenn Sie einen Übergang im Bildungssystem einbauen, an dem eine Entscheidung getroffen werden muss, verlässt ein Teil das Bildungssystem. Beispielsweise sehen wir das nach der Bologna-Reform. Davor hat man einen Magister- oder ein Diplom-Abschluss gemacht, wobei ein Studium fünf Jahre gedauert hat. Stattdessen hat man nun die zusätzliche Entscheidung eingebaut: Mache ich nach dem Bachelor noch einen Master? Wenn man Leute zwingt, sich noch einmal zu entscheiden, ob sie weitermachen, sind manche unsicher und hören auf. Meist nicht die bildungsnahen Personen, sondern die aus den Nichtakademikerhaushalten. Der Master ist sozial selektiver als der Magister oder das Diplom waren. Barrieren im Sinne von absichtlichen Hürden würde ich aber nicht beschreiben. Aber wenn man sich die Auswirkungen gewisser institutioneller Regelungen im Bildungssystem ansieht, könnte man das als Barriere verstehen.

Wenn der Schulerfolg davon abhängig ist, dass die Eltern nachmittags mit den Kindern zu Hause üben, können Sie sich denken, wer das sein kann. Die alleinerziehende Krankenschwester sicher nicht.

Welche Rolle spielen die Ressourcen der Eltern im Studium?

Wir sehen schon zu Beginn die Vorteile, die Akademikerkinder haben. Alles ist aufregend, man muss sich erst einmal zurechtfinden. Hier sind die Erfahrungen und das Wissen der Eltern ein unglaublicher Vorteil für die Kinder. Wir bezeichnen das als primäre Herkunftseffekte, dass Kinder aus den Akademikerfamilien unabhängig davon, in welchem Abschnitt sie sich im Bildungssystem befinden, immer bessere Chancen haben. Die sekundären Herkunftseffekte sind die unterschiedlichen Entscheidungen, die erst einmal unabhängig von den Leistungen getroffen werden. Hier spielen zum Beispiel finanzielle Ressourcen des Elternhauses eine Rolle, wenn es um die Entscheidung geht, ob man das tolle unbezahlte Praktikum annehmen oder noch ein zusätzliches Semester anhängen kann. Schließlich gibt es noch tertiäre Effekte, die durch das Lehrpersonal verursacht werden, das sich anders verhält, je nachdem, ob es ein Akademikerkind ist oder nicht.

In ihrer Promotion haben Sie die Auswirkungen einer konkreten Institution auf die Bildungsungleichheit untersucht: die des achtjährigen Gymnasiums. Schafft auch sie wieder Barrieren?

Ich würde nicht sagen, dass das G8 eine Bildungsbarriere war. Die Zusammensetzung der Schülerschaft hatte sich durch das G8 verändert. Das weist darauf hin, dass die Entscheidung für das Gymnasium unter die G8-Bedingungen eine andere war als unter den G9-Bedingungen. Beim G8 sind vor allem Kinder aus Akademikerfamilien, die von ihrem Leistungsniveau her genau an oder ein bisschen unter der Grenze waren, auf andere Schulformen als das Gymnasium gegangen. Gesamtschulen und Waldorfschulen haben somit vom G8 profitiert. Dort können die Kinder auch ein Abitur machen und später studieren, was für bildungsnahe Eltern besonders wichtig ist. Zudem haben die leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler das Gymnasium schneller als im G9 verlassen. Im G8 wurde die Orientierungsphase in der fünften und sechsten Jahrgangsstufe viel stärker genutzt, um „das Gymnasium mal auszuprobieren“ und im Zweifel auf eine andere Schulform zu wechseln. Vergleicht man die Kompetenzen, waren die Schülerinnen und Schüler im G8 am Ende im Durchschnitt ungefähr gleich gut wie im G9. Leistungsmäßig hat es keine negativen Auswirkungen gehabt, aber die Entscheidungen in den Familien haben sich verändert.

Gibt es andere Reformen mit ähnlichen Effekten?

Ja, beispielsweise bei der bindenden Grundschulempfehlung, die wir hier in Bayern zum Beispiel haben. Wer keinen Notendurchschnitt von 2,3 hat, muss die Aufnahmeprüfung am Gymnasium machen. In Nordrhein-Westphalen gab es erst eine nicht-bindende Übergangsempfehlung, sodass die Eltern völlig frei entscheiden konnten. Nach einem Regierungswechsel wurden Empfehlungen verbindlich und nach einem weiteren Wechsel wurde wieder die freie Elternentscheidung eingeführt. Hier zeigte sich, dass insbesondere Akademikereltern die Möglichkeit nutzen, ihre Kinder – unabhängig von ihren Schulleistungen – aufs Gymnasium zu schicken. Sobald Sie es völlig frei machen, sagen die Akademikereltern: „Natürlich will ich, dass mein Kind aufs Gymnasium geht. Natürlich will ich, dass mein Kind studiert.“ Obwohl es vielleicht, wenn man die Leistungsfähigkeit des Kindes betrachtet, gar nicht die richtige Entscheidung für das Kind wäre. Deshalb studieren viel mehr von den Akademikerkindern als von den Nichtakademikerkindern, deshalb sind viel mehr auf dem Gymnasium.

Die unterschiedlichen Ressourcen der Eltern gleichen sich nur langsam an. Laut eines OECD-Berichts kann es in Deutschland sechs Generationen, also 150 Jahre dauern, bis eine einkommensschwache Familie das Durchschnittseinkommen aufholt. Kann da noch von Chancengleichheit gesprochen werden?

Die 150 Jahre sind mit Sicherheit ein theoretischer Wert, den man aufgrund der aktuellen Quoten zur sozialen Mobilität errechnet hat. Die Chancen haben sich in den letzten 70 Jahren aber schon deutlich verbessert. Aber es ist keine lineare Entwicklung, sondern natürlich abgeflacht. Die Chancen werden sich niemals hundertprozentig angleichen . Das liegt einfach auch daran, dass die bildungsnahen Kinder immer bessere Chancen haben werden, weil sie auf mehr Ressourcen Zugriff haben – damit meine ich nicht nur finanzielle, sondern vor allem auch soziale Bildungsressourcen. Das wird und kann sich nicht ändern. Was wir als Gesellschaft erreichen können, ist, diese Unterschiede abzubauen. Die Frage ist natürlich, inwieweit wir sagen wollen: Bildungsgerechtigkeit gibt es nur dann, wenn wirklich alle die absolut gleichen Chancen haben. Ich halte das für kein realistisches Ziel.

Die Chancen werden sich niemals hundertprozentig angleichen.

Eine soziale Gruppe, zu der Sie auch geforscht haben, ist die Gruppe der geflüchteten jungen Erwachsenen. Wie schneidet sie denn im deutschen Bildungssystem ab? Mit welchen Barrieren ist sie konfrontiert?

Geflüchtete Kinder und Jugendliche zeigen ganz ähnliche Verläufe und Probleme wie auch andere Migrantengruppen in Deutschland. Die größte Barriere für Geflüchtete ist die deutsche Sprache . Wir hatten zunächst erwartet, dass es noch zusätzliche Barrieren geben könnte, wie zum Beispiel der Aufenthaltsstatus oder die psychosoziale Gesundheit bei kriegstraumatisierten Personen. Im Einzelfall kann das eine große Hürde darstellen, aber insgesamt betrachtet scheinen das nicht die großen Treiber zu sein, sondern die Deutsch-Kompetenzen. Wenn Geflüchtete die deutsche Sprache erlernen, haben sie viele Möglichkeiten. Aus einer politischen Perspektive ist das insofern eine schöne Erkenntnis. Die Deutschkurse, die Geflüchtete machen müssen, gehen also genau in die richtige Richtung, um ihre Integration zu ermöglichen. Für Kinder ist es sehr wichtig, dass sie schnell in Kontakt mit der deutschen Sprache kommen, zum Beispiel in einer Kindertageseinrichtung, damit die Möglichkeit erhalten, im Bildungssystem langfristig auch bestehen zu können.

Die größte Barriere für Geflüchtete ist die deutsche Sprache.

Und wo sind Stellschrauben, an denen man allgemein arbeiten könnte, um mehr Bildungsgleichheit herzustellen?

Alle Maßnahmen, die den Einfluss des Elternhauses reduzieren, sind genau die, auf die es ankommt. Wenn wir den Schultag verlängern, schaffen wir mehr Bildungsgleichheit. Denn so sind Kinder länger den gleichen Anregungssituationen ausgesetzt. Das bedeutet nicht zwingend, dass die Kinder plötzlich mehr als fünf Stunden Unterricht machen, sondern ein gemeinsames Mittagessen und gemeinsames Hausaufgabenmachen in der Schule würde vielen benachteiligten Kinder helfen. Der zweite Punkt ist die Anzahl der Bildungsübergänge. Wenn man sie reduziert, reduziert man die Bildungsungleichheit. Wir sehen bereits die Entwicklung weg vom klassischen dreigliedrigen Schulsystem hin zu einem durchlässigeren Schulsystem. Auch das baut Bildungsungleichheit ab.

Wo kann im Studium mehr Gleichheit geschaffen werden?

Ganz naheliegend Bafög. Denn Vielen ist das Studium, vor allem was den Lebensunterhalt angeht, zu teuer. Was man auch ohne große Gesetzesänderungen und Investitionen machen könnte, wäre mehr Coaching und Mentoring für Studierende aus bildungsfernen Familien. Das Zurechtfinden an der Hochschule ist für viele schwierig, vor allem für die Personen, die die ersten in ihrer Familie sind, die studieren. Wenn man da konkrete Hilfe leisten kann, ist das auf jeden Fall eine Verbesserung, die auch noch nicht viel kostet.

Das ist ein schöner Ausblick, wenn es relativ einfache Lösungen für sehr große Probleme gibt. Eine letzte Frage zu Ihrem Arbeitstag: Wie hat die Pandemie ihre Forschung beeinflusst?

Für uns stellt sich nun vor allem die Frage: Welchen Einfluss hat Corona auf die bestehenden Bildungsungleichheiten? Aufgrund von theoretischen Überlegungen ist immer wieder formuliert worden, dass Corona einen ziemlich starken Einfluss auf Bildungsungleichheiten haben müsste. Wir erwarten, dass Kinder, die in Haushalten aufwachsen, die für Homeschooling technisch gut ausgestattet sind, wo die Eltern die Möglichkeit haben, im Home-Office zu arbeiten, die Auswirkungen von diesen Schulschließungen viel weniger eine Rolle spielen. Aber wir wissen das im Prinzip noch nicht, weil es für Deutschland bisher zu wenig belastbare Daten und daher kaum aussagekräftige Studien dazu gibt. Die internationale Forschungslage stützt zumindest die These, wobei es scheinbar nicht so stark ist, wie man ursprünglich befürchtet hatte. Als wir komplett im Schul-Lockdown waren, wurde von unglaublich vielen Forschenden gesagt, dass das sehr schlimme Auswirkungen auf die Bildungsleistungen und Bildungsungleichheit haben müsse. Diese sehr schlimmen Auswirkungen sehen wir aktuell noch nicht. Das heißt nicht, dass es nicht auch schlimm wäre. Aber so schlimm, wie ist schwarzgemalt wurde, scheint es hoffentlich nicht zu sein.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Homuth.

Dr. Christoph Homuth, Soziologe
Forschungsfrage: Warum treffen unterschiedliche Menschen unterschiedliche Bildungsentscheidungen?
Forschungsort: Leibniz-Institut für Bildungsverläufe Bamberg
Arbeitsbereich: Bildungsentscheidungen und -prozesse, Migration, Bildungsrenditen
Aufgabe: nationales Bildungspanel NEPS mitgestalten

Kommentare anzeigen (0)

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.