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„Willst du meine neue Mama sein?“
Dunkel Hell

„Willst du meine neue Mama sein?“

Unbeholfen steht ein junges Mädchen am Eingang des Flüchtlingszelts. Die kleinen Hände spielen nervös an einem ihrer beiden Zöpfe. Vorsichtig tapst sie herein, scheint verwirrt von dem belebten Geschehen. Das staubige Zelt ist voller Menschen. Links stehen drei braune Plastiktische, dahinter je ein Arzt, rechts verteilen zwei Pharmazeuten Medikamente an die bereits behandelten Patienten. Das Team der deutschen Hilfsorganisation humedica leistet kostenlose medizinische Versorgung für alle Bewohner des Flüchtlingscamps. Eine syrische Familie stellt ihre circa zehn Quadratmeter Wohnfläche, bestehend aus Holzpfählen und weißen, darüber geworfenen Planen, zur Verfügung. Vor dem Zelt reihen sich hunderte von Flüchtlingen in der staubigen Hitze. Meist sind es Mütter mit ihren fünf, sechs, nicht selten sogar fünfzehn Kindern.

Verlorene Generation

Das kleine Mädchen sieht mich, lächelt und kommt auf mich zugelaufen. Wir kennen uns bereits, da ich wenige Minuten zuvor mit einigen Kindern Fußball gespielt habe. Ein deutscher Arzt und ich haben beschlossen, in jedes der Flüchtlingscamp einen Ball mitzubringen. Spielzeuge haben wir nämlich noch nicht entdeckt. Stattdessen suchen sie im Müll nach brauchbaren Dingen, die für einen Moment ablenken. Dann denken sie nicht an all die schrecklichen Bilder, die Schreie der Menschen, die um ihr Leben bettelten und qualvoll zuckten, als man auf sie entrat; denken nicht daran, wie sie hungerten und letztendlich ihre Katze kochen mussten. Dies alles sind Erzählungen, die wir in den vergangenen Tagen zu hören bekamen.

Sie hat zugesehen, wie sie getötet wurde, fügt sie mit gefestigter Stimme hinzu.

Womöglich wird der Ball nicht lange halten, doch immerhin haben die Kinder für kurze Zeit ihr Vergnügen – und eine Beschäftigung! Denn die Flucht aus Syrien bedeutet für sie, nicht mehr zur Schule gehen zu können. Zwar gibt es Hilfsorganisationen, die sich um Bildungsmaßnahmen kümmern, jedoch sind deren Kapazitäten bei 1 124 informellen Zeltsiedlungen allein in der libanesischen Bekaa-Ebene (ein kleineres Gebiet als Oberfranken) weit ausgeschöpft. Nach Angaben des Kinderhilfswerks UNICEF sind 7,5 Millionen syrische Kinder auf der Flucht. Viele von ihnen haben keine Perspektive – eine ganze Generation, deren Zukunft vom Krieg geraubt wurde. Anhänger des IS nutzen diese Situation und infiltrieren die Camps.

„Willst du meine neue Mama werden?“

Ich beuge mich zu dem Mädchen: „Wie heißt du?“, frage ich in meinem gebrochenen Arabisch und suche mit meinen Augen nach ihrer Mutter, auf die sie wohl wartet. Sie erwidert ein schüchternes Lächeln, versteht mich also nicht. Ein Field Officer von humedica, der den Andrang auf das Ärztezelt regelt und für die Registrierung der Patienten zuständig ist, sieht meine Bemühungen. Er kniet sich dazu und übersetzt aus dem Arabischen. Ich nehme ihre Hand und sage, dass ich „Caro“ heiße, frage nach ihrem Namen und ihrem Alter, erkundige mich, ob sie wohl auf ihre Mutter warte. Sie heiße Elisa, ist fünf Jahre alt, und ihre Mutter ist tot, so die prägnante Antwort. Sie hat zugesehen, wie sie getötet wurde, fügt sie mit gefestigter Stimme hinzu. Mein Atem stockt für einen Augenblick. Ich bin perplex, damit habe ich nicht gerechnet. Gleichzeitig ärgere ich mich über meine Taktlosigkeit, ein Kriegskind nach ihren Eltern zu fragen. Elisa redet weiter, ihre zarte Stimme zieht dumpf an mir vorbei, und ich bewundere, mit welcher Stärke und Offenheit sie uns erzählt: wie Männer in ihr Haus kamen, ihre Mutter aus der Hand rissen, obwohl sie doch um sie schrie und flehte. Sie zerrten sie zur Tür und schossen ihr dann in den Kopf. Als letztes sah Elisa, wie sie die Beine ihrer Mutter packten und ihren blutigen Kopf über den Asphalt schliffen. Völlig erstarrt knien der Field Officer und ich vor ihr. Wie verhält man sich nun am besten? Anscheinend haben Kinder ein besseres Gespür dafür. Sie nimmt meine Hand, die immer noch die ihre hält, und legt sie um ihren Kopf. Als sie beim Fußballspielen hingefallen ist, habe ich ihren Kopf gekrault. Ich nehme an, das ist ein Zeichen, weiterzumachen. Sie lächelt und fragt: „Willst du meine neue Mama werden?“

Flucht ins Elend

Schicksale wie das von Elisa sind durch den Bürgerkrieg in Syrien zum traurigen Alltag geworden. Für viele geht die Misere weiter, da der provisorische Aufbau der Camps keinen Schutz vor sexuellen oder gewalttätigen Übergriffen bietet. Knapp 1,2 Millionen registrierte (!) syrische Flüchtlinge leben derzeit im Libanon, in einem Land, das selber gerade mal 4,8 Millionen Einwohner hat und dessen Fläche halb so groß wie Hessen ist. Hinzu kommen 300 000 Flüchtlinge aus Palästina. Die Dunkelziffer der Syrer dürfte deutlich höher liegen. Die Hälfte der Geflohenen sind Kinder. Sie wohnen in dezentralen Zeltsiedlungen, nicht weit entfernt von der syrischen Grenze, wo man je nach Windlage nachts Bomben und Schüsse hören kann. Leben Plane an Plane auf wenigen Quadratmetern, schlafen auf dem Boden, kochen ohne Küche, haben keine sanitären Anlagen. Die Zelte sind im Sommer viel zu heiß, im Winter frieren die Kinder in den Flip Flops. Für diese provisorischen Unterkünfte müssen Mietgebühren an die Landeigentümer gezahlt werden. Eine Hürde, weshalb ein Großteil auf die tägliche Feldarbeit angewiesen ist – trotz Krankheit, Kriegsverletzung, Schwangerschaft oder Minderjährigkeit. Viele der Feldarbeiter sind Kinder. Sie verdienen fünf US-Dollar am Tag, abzüglich 2,5 Dollar für den Arbeitsvermittler und eines weiterenDollars für den Fahrer, der sie täglich zur Arbeit bringt.

Kinderarbeit für die Zeltmiete

Als der Transporter heute am späten Nachmittag zurück ins Camp kommt, springen sie scharenweise vom Lieferwagen, lachen und sind aufgewühlt, da die Ärzte vor Ort sind. Viele von ihnen laufen schnurstracks ins Zelt. Die meisten von ihnen leiden durch die kräftezerrende Arbeit unter Rückenschmerzen. Eine 17-Jährige ist im achten Monat schwanger und fragt nach Schmerzmittel, damit sie weiterarbeiten kann. Die Ärzte können ihr abraten, sie aber nicht nicht kontrollieren – es ist ein belastender Job. Zumal die Regierung nur basismedizinische Versorgungen der NGOs erlaubt. Den Flüchtlingen darf es nicht besser gehen als den anderthalb Millionen Libanesen, die weit unter der Armutsgrenze leben. humedica ermöglicht dennoch finanzielle Hilfeleistungen für wichtige Operationen oder Chemotherapien. 3 500 Patienten behandelt das humedica-Team im Monat. Die zehn Mitarbeiter sind vorwiegend Libanesen. Eine deutsche Koordinatorin ist fortwährend vor Ort, und hin und wieder kommt ein deutscher Spezialist. Atemwegserkrankungen, Hautausschläge, Würmer und Bettnässerei aufgrund der Traumata waren heute die häufigsten Diagnosen. Das Team muss zurück, bevor es dunkel wird.

Abends blicke ich von meinem Apartment auf den „Antilibanon“, so wird die Gebirgskette genannt, die den Libanon von Syrien trennt. Die Sonne geht unter und zeichnet ein malerisches Rot über die Idylle. Für mich ist es jeden Tag aufs Neue unbegreiflich, dass das Leben hier völlig normal scheint, während 15 Kilometer weiter ein abscheulicher Krieg herrscht. Voller Dankbarkeit und Demut für die vielen wertvollen Begegnungen und Erfahrungen gehe ich ins Bett. Draußen höre ich es knallen: „Es ist gewiss nur ein Feuerwerk“, denke ich mir und hoffe, dass Elisa und die vielen anderen traumatisierten Kinder nicht von all den Schreckensmomenten eingeholt werden und voller Angst in ihren Zelten bangen.

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