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Utopie

Utopie

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  • Tessa Friedrich, Jessica Schottorf und Franziska Klein — so heißen die Gewinnerinnen des Schreibwettbewerbs von feki.de, dem Rezensöhnchen und dem Ottfried. Die Texte zum Thema “(Uni-)Alltag nach Corona” wurden von einer sechsköpfigen Jury bewertet und wir freuen uns, Tessas Text “Utopie” bei uns veröffentlichen zu dürfen.

Der Wecker klingelt. Zum ersten Mal, denke ich und drehe mich noch einmal um. Ein kurzer Blick aufs Ziffernblatt verrät aber dann doch, dass es das fünfte Mal war.

Schnell springe ich noch halb taumelnd aus dem Bett, mein linker Fuß landet in einem leeren Pizzakarton. Eines der vielen Relikte vom spontanen Filmemarathon der letzten Nacht. Die angetrocknete Tomatensoße habe ich gekonnt verfehlt. Erstes Erfolgserlebnis für heute. Im dunklen Flur liegen noch weitere Pizzatretminen, denen ich auf Zehenspitzen ausweiche. Die anderen beiden schlafen bestimmt noch.

Das helle Licht im Badezimmer versucht, den letzten Rest Müdigkeit zu verscheuchen. Ich setze mich auf den Teppich und grabe meine Zehen in den flauschigen Stoff. Beim Zähneputzen fällt mir ein, dass ich die Blonde, mit der ich mir die Diavola geteilt habe, gar nicht kannte. Aber mit Fremden schmeckt Pizza am besten. Hat Oma zumindest immer gesagt.

Meine Haare fallen an diesem Morgen zum Glück sehr gut, Jeans und T‑Shirt müssen also reichen. Ich werfe einen Apfel in meinen Rucksack und radle los. Auf der Brücke sehe ich kurz dem Flusslauf nach. Irgendwie seltsam, wie warm die Luft um kurz nach zehn schon werden kann. Den Sommer kann ich im Fahrtwind bereits riechen.

Ich brauche nur ein paar Minuten, bin aber trotzdem außer Atem. Auf der Treppe überspringe ich jede zweite Stufe und ziehe mir schnell die Maske auf. Ich bin sogar noch pünktlich. Als ich über die Türschwelle trete, bemerke ich, wie sich fast alle Gesichter zu mir drehen und mich skeptisch mustern. Ich schaue schnell nach unten. Mein Hosenschlitz ist zu. Als ich in ein weiteres verwirrtes Paar Augen blicke, wird mein Hirn endlich wach. Ich seufze und nehme schnell die Maske ab.

Sophie ist schon da, wie immer. Ich lasse meinen Rucksack neben den Tisch fallen und nuschle ihr ein Gdn Mrgn zu. Sobald ich sitze, atme ich tief durch. Sophie grinst, als ob sie schon wieder eine volle Stempelkarte auf der Straße gefunden hätte.

„Was?“

„Nichts“, sagt sie, grinst aber immer noch.

„Ja, ich weiß. Dass wir die nicht mehr brauchen, vergesse ich immer…“

„…wenn du verschlafen hast?“ Sie boxt mir leicht in die Schulter. „Wie lang gings gestern denn?“

„Lang. Bei einer Trilogie nach dem zweiten Teil aufzuhören, das ist doch Verrat.“

„Stimmt. Nathalie hat mir heute schon eine sehr ausführliche Voicemail geschickt, dass du gestern anscheinend auch noch einen Vortrag über die guten alten Zeiten gehalten hast, in denen man im Rewe noch Abstand halten musste und nicht ständig einen Rentnereinkaufswagen in den Fersen hatte.“

„War ja auch gut, oder?“, frage ich und zucke mit den Schultern.

Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Vorne rechts sitzt eine, die ausgiebig in er Nase popelt. Nach zwei Semestern mit Webcam-Privatsphäre habe ich so einen Anblick ja fast vermisst. In einer Reihe hinter mir bemerke ich den süßen Typ vom BamBus-Dinner letzte Woche. Er grinst. Ich schlucke. Großartig. Da hatte ich die Chance auf einen selbstbewussten Auftritt, um einen guten zweiten Eindruck zu hinterlassen, und ich komme als Hypochonderin.

Die Dozentin schließt die Tür und begrüßt uns. Ich drehe mich nach vorn.

Nach dem Seminar holen wir uns einen Kaffee beim Krumm und Schief. Ein hysterisches Geklingel scheucht Sophie vom Fahrradweg, ein großer Milchschaumklecks ihres Cappuccinos landet auf dem Pflaster. Sophie starrt entsetzt auf den Boden, ich lache.

„Wenn es dich tröstet, dann darfst du auch meinen ersten Schluck haben. Mit viel Schaum.“

„Krieg ich auch ein Stück von deiner Zimtschnecke?“

„Klaro.“

Wir setzen uns unter den alten Kran am Fluss und ziehen die Schuhe aus. Sophie beißt direkt in meine Zimtschnecke. Der Cappuccino-Unfall scheint sofort vergessen. Vor mir scheucht ein kleiner Junge ein paar Tauben auf, die Mutter rennt ihm lachend hinterher, Papa filmt mit dem Handy und lacht auch. Irgendwie niedlich, denke ich, während Sophie neben mir mein Milchschaumherz fotografiert.

Kurz bevor wir gehen wollen, kommt uns eine Gruppe amerikanischer Touristen entgegen. Ihnen voran der süße BamBus-Typ mit seinem Tourguide-Zepter. Ich grinse. Er auch. Erfolgserlebnis Nummer zwei. Ich blicke der Truppe hinterher, Sophie fällt meinen Gedanken ins Wort.

„Schon irgendwie komisch, oder?“

„Was denn?“

„Naja. Wie alles so aussieht. Als ob nichts war. Als ob es das letzte Jahr gar nicht gegeben hätte.“ Sie dreht den Kopf zu mir. „Irgendwie ist jetzt wirklich alles genauso wie vorher, oder?“

„Stimmt“, sage ich.

Nur, dass sich alles noch ein bisschen schöner anfühlt.

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