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Fünf Tage Revolte: Das Ebracher Knastcamp 1969
Dunkel Hell

Fünf Tage Revolte: Das Ebracher Knastcamp 1969

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  • Während Ende der 1960er die gesamte Republik in studentischen Krawallen versinkt, spürt man in Bamberg wenig von den revolutionären 68ern. Bis im Juli 1969 über hundert Aktivisten ein oberfränkisches Gefängnis belagern und später das das Landratsamt stürmen. Eine Recherche zum Ebracher Knastcamp.

Viel ist nicht los an diesem Dienstagabend im oberfränkischen Ebrach 30 Kilometer westlich von Bamberg. Hin und wieder rauscht ein Auto über die durch die Gemeinde führende Bundesstraße B22, drei Passanten haben sich vor die geschlossenen Geschäfte verirrt, eine Gruppe Touristen erkundet die Fassaden der denkmalgeschützten Häuser, bevor sie im „Hotel Klosterbräu“ zum Essen verschwindet. Von Revolution und Krawall ist wenig zu spüren. Ganz anders 49 Jahre zuvor. Damals ist Reinhard Wetter in Ebrach untergebracht. Acht Monate sollte der Münchener Student in der Strafanstalt einsitzen, unter anderem wegen Beförderungserschleichung. Er hatte in der Straßenbahn Flugblätter verteilt und dafür keine Fahrkarte gelöst. Um ihn zu befreien, kommen über 100 Demonstranten in die oberfränkische Marktgemeinde, demonstrieren, verteilen Flugblätter, versuchen in das Gefängnis einzudringen. „Der Ort ist aus den Fugen geraten“, erzählt eine Zeitzeugin.

Der Schauplatz für fünf Tage Unruhe liegt mitten zwischen Fachwerkhäusern, Landmetzgerei und Raiffeisenbank: ein Zisterzienserkloster. Große Bleiglasfenster zieren den barocken Bau, immer wieder lugen Stacheldraht und Kameras zwischen dem roten Sandstein hervor. Seit 1958 nutzt die bayerische Justiz das Kloster als Jugendstrafanstalt, 1969 bringt sie hier den Häftling Wetter unter. Zunächst ohne große Probleme. Ein damaliger JVA-Beamter beschreibt ihn am Telefon als „patent“ und „anständig“. Ein Interview will er nicht geben. Überhaupt ist es schwierig, Beamte von damals zu finden. Ruheständler könne man nicht vermitteln, schreibt die Pressestelle des Polizeipräsidiums Oberfranken. Die Unterlagen seien vernichtet, der Grund: Datenschutz. Die, die man doch findet, schweigen lieber. Reden wollen nur die Anderen. Teilnehmer des Knastcamps. Anwohner.

Foto: Gemeindearchiv Ebrach

Wetters Fall wird zum Politikum. Seine Mitstreiter wollen das Urteil nicht hinnehmen, der Student soll freikommen. Deshalb lädt die Außerparlamentarische Opposition „APO“ zum Knastcamp in Ebrach. Aus ganz Deutschland reisen die Demonstranten an, darunter sollen auch die späteren RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Irmgard Möller gewesen sein. Anwohner erinnern sich an Sprechchöre, an Plakate. „Freiheit für Wetter“ und „Wir lassen uns nicht, wir müssen uns kriminalisieren“ stand darauf. Für die Gemeinde und deren Anwohner eine Herausforderung. „Das muss man sich vorstellen: Plötzlich tauchen in einer kleinen Beamtengemeinde Leute auf, die sich anders bewegen, anders outen, anders kleiden“, erzählt Theresia Arnholdt. Die 62-jährige gebürtige Ebracherin war zwölf, als die APO in die Kleinstadt kam. „Wir Kinder fanden das natürlich klasse, aber es gab Leute, die sehr aggressiv und gewaltbereit reagiert haben.“ Es kam zu „Tätlichkeiten“, schrieb der Fränkische Tag. „Die Älteren haben sich provoziert gefühlt, sind auf die losgegangen und haben die an den Haaren gepackt“, sagt Arnholdt. Es kommt nicht nur zu Zusammenstößen mit den Anwohnern, auch zwischen Demonstranten und der Staatsgewalt entstehen Konflikte. Die APO versucht sich mittels eines Rammbocks Zugang zum Gefängnis zu verschaffen. Das Tor öffnet sich, aber die Polizei kann verhindern, dass Demonstranten in die Strafanstalt eindringen.

Foto: Chiara Riedel

Die Politik kritisiert die Aktion stark, versucht sie zu verhindern. Der damalige CSU-Vorsitzende Franz-Joseph Strauß spricht von „Tieren“, auf die man für Menschen gemachte Gesetze nicht anwenden könne. Der Landkreis verbietet mittels Verordnung das Zelten in der ganzen Region. Die APO muss auf andere Landkreise ausweichen – oder ist auf die Hilfe von Anwohnern angewiesen. Roland Arnholdt gibt den Demonstranten für eine Nacht Quartier. „Da hat sich in mir etwas aufgewühlt, wenn man das Zelten einfach so verbietet“, erzählt der 68-Jährige, der mit Theresia Arnholdt verheiratet ist und im Jahr 1969 gerade mit der Schule fertig war. „Die haben ja nichts verbrochen.“ Sein Bruder Hilmar schlägt ihm damals vor, die Demonstranten in seinem Haus unterzubringen. Das Grundstück hatte Arnholdt von seinem Großvater geerbt, heute ist es verkauft, steht aber immer noch am Ortsende von Untersteinach bei Ebrach. Zwei Gebäude, ein großes Einfamilienhaus und ein längliches Nebengebäude, beide in schmutzigem Weiß gehalten. „Das Haus stand damals leer“, sagt Arnholdt. „Wir hatten Platz genug.“Kurz nachdem etwa 20 Demonstranten ihre neue Unterkunft bezogen haben, stehen Beamte des Landratsamtes auf dem Hof und versuchen, die Familie unter Druck zu setzen. „Mein Stiefvater war ein Freigeist“, erzählt Arnholdt. „Der hat die da wohnen lassen, solange sie sich ordentlich verhalten haben.“ Eine Nacht verbringen die Demonstranten bei Roland Arnholdt. Am nächsten Morgen um neun Uhr brechen sie auf, fahren mit den mitgebrachten Bussen und PKW Richtung Bamberg.

Er hat sich eher zufällig der Gruppe um Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann angeschlossen

Nach Bamberg gelotst werden sie von Christoph Mück, der als gebürtiger Bamberger den Weg zum Landratsamt kennt. „Das waren politische Aktivisten, wild aussehende Rebellen“, erzählt Mück, der sich eher zufällig der Gruppe um Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann anschloss. Der damals 18-Jährige wollte eigentlich nur ein Konzert besuchen, das bei dem Camp geplant war. Spaß haben, Leute treffen. „Ich wollte nur die alternative Szene kennenlernen.“ Heute ist Mück Inhaber der Bamberger Weinstube Pizzini. Dort sitzt er an einem der Holztische und erzählt von der Aktion und der Szene, die er als dogmatisch beschreibt. „Mir kam das alles ein bisschen kindisch vor”, sagt Mück. Immer wieder faltet er ein Stück Papier, mehr gelangweilt als nervös. Sein Blick ist meist in die Ferne gerichtet, seine Augen sind ausdruckslos. Ab und zu lacht er trocken – so als würde ihm die Absurdität der Situation in diesem Moment wieder einfallen.

Foto: Florian Hörlein

Die 40 APO-Leute hätten sich im Landratsamt bereits ausgekannt, schrieb der Fränkische Tag. „Sie stürmten zielstrebig bis ins Vorzimmer des Landrats vor.“ Da die Beamten zuerst dachten, die Aktivisten wollten das Gericht stürmen, bleibt den Demonstranten kurz Zeit für Randale, bevor die Aktion beendet wird. Sie werfen Akten aus dem Fenster, beschädigen einen Fernschreiber. „Am Ende war es dumm, völlig stoned auf den Landrat zu warten, der nie kam“, sagt Mück heute. „Rundum nur Chaos bis zur Verhaftung.“ Die Aktivisten verbringen eine Nacht im Bamberger Gefängnis, darunter Mück. „In der U‑Haft haben alle nur ‚Kunzel‚ Kunzel!‘ gerufen“, sagt Mück. Gemeint ist Dieter Kunzelmann, einer der Anführer der Aktivisten. „Ein Guru der Antiautoritären, absurd.“

Nach fünf Tagen kehrt wieder Ruhe ein. „Am Samstag gab die APO auf. Sie brach ihr Knastcamp im Raum Ebrach ab und verduftete“, schrieb der Fränkische Tag. „Das war wie ein Spuk, der am nächsten Tag rum war“, sagt Roland Arnholdt. Die Mitglieder der APO fahren weiter, eine Gruppe verschlägt es über Italien nach Jordanien. Dort in ein militärisches Ausbildungslager. Die Radikalisierung der Szene beginnt. Und auch in Bamberg hinterlässt das Knastcamp Spuren, erzählt Mück: „Nach 69 kamen Arbeiter ins Pizzini zum Diskutieren, die vorher nur ‚Studentla‘ vermöbeln wollten.“

Dieser Artikel erschien in unserer Printausgabe vom 9. Juli 2018.

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