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„Im Austausch lassen sich viele Monster zähmen“
Dunkel Hell

„Im Austausch lassen sich viele Monster zähmen“

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  • Du willst Reisen, deine Eltern sehen dich aber eher im Medizinstudium? Die Erwartungen der Eltern sind nicht immer das, was sich ihre Kinder wünschen. Familientherapeutin Astrid Beermann erklärt im Interview, wie man dem Gefühl, für das Glück der Eltern verantwortlich zu sein, begegnen kann und warum man keine Angst davor haben muss, die Eltern zu enttäuschen.
Disclaimer: Du fühlst dich psychisch belastet und suchst Hilfe? Am Ende des Artikels findest du mögliche Ansprechpartner*innen.

Dr. Astrid Beermann ist Diplom-Soziologin, Systemische Beraterin und Therapeutin, Supervisor, Coach und Mediatorin. In ihrer Praxis in Oldenburg berät und therapiert sie unter anderem Familien. Sie ist Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF).

Ottfried: Als ich für das Studium in eine andere Stadt gezogen bin, hatte ich ein schlechtes Gewissen, meine Eltern allein zurückzulassen. Warum fühle ich mich für das Glück meiner Eltern so verantwortlich?

Beermann: Es ist etwas Universelles, was wir fühlen, wenn uns Menschen am Herzen liegen. Auch wenn nicht immer alles gut gelaufen ist, bleiben Eltern meist geliebte Personen, weil sie unsere Herkunftsfamilie sind, an die wir uns gebunden fühlen. Glückliche Eltern bedeuten auch stabile Eltern – und stabile Eltern bedeuten für mich als jungen Menschen, dass ich Halt habe und selbst stabil bin. Es kommt darauf an, mit welchem Lebensgefühl der Wunsch, die Eltern glücklich zu machen, verbunden ist. Spüre ich Leichtigkeit und Rückenwind, wenn ich an meine Eltern denke? Dann ist alles bestens aufgestellt. Manchmal haben junge Menschen aber das Gefühl, wie mit angezogener Handbremse durch das Leben zu gehen. Sie spüren, dass es etwas Ungelöstes in der Familie gibt, was sie nicht richtig fassen, aber spüren können.

Woher kommt dieses Gefühl?

Beermann: Jede Familie hat ihre eigene Geschichte. In Deutschland bemerken wir bis heute in der vierten und fünften Generation die Folgen des Zweiten Weltkriegs dynamisch und unbewusst im Familienklima. Vielleicht gab es Ereignisse oder Verluste, die die Eltern viel emotionale Kraft gekostet haben. Da kann es sich lohnen, es transgenerational anzuschauen: Welche Zahlen, Daten, Fakten gibt es? Wer gehört dazu? Wer ist wann geboren? Wer ist wann gestorben? Was gab es für besondere Ereignisse? Wie hat das jeder erlebt? Manchmal nehmen erwachsene Kinder auch einfach an, sie wären nur dafür da, ihre Eltern glücklich zu machen, sie zu näheren und auf ihre Bedürfnisse zu achten. Die Generationen sind verdreht, als würde das Kind die Eltern beeltern. Wenn man darüber spricht, sagen aber mindestens 99,9 Prozent der Eltern: „Du musst dich nicht für mich verantwortlich fühlen. Das, was ich dir geben kann, gebe ich gerne.“ Die Kinder sind davon überrascht, fühlen sich aber auch befreit.

Was ist, wenn die Eltern tatsächlich instabil sind?

Beermann: Eltern, die psychische Probleme haben oder sich schwertun, im Leben voranzukommen, brauchen mehr Zeit und oft professionelle Begleitung. Die Person, die das Problem hat, ist auch die Person, die es lösen kann – niemand anderes.

Die Person, die das Problem hat,
ist auch die Person, die es lösen kann
– niemand anderes.

Gibt es Familienkonstellationen, in denen sich Kinder besonders verantwortlich für die Eltern fühlen?

Beermann: Wenn es in einer Familie viel Leid gibt, seien es körperliche oder eben psychische Erkrankungen, viele Verluste oder knappe Ressourcen. Auch Kinder von Eltern, die nach Deutschland migriert sind, spüren oft, dass sie die Hoffnungsträger sind. Junge Menschen haben dann manchmal Retter-Impulse und wollen alle mitversorgen und glücklich machen. Es kommt auch darauf an, ob ich Geschwister habe. Mit ihnen kann ich Gefühle und Aufgaben meist teilen.

Sind Kinder ihren Eltern etwas schuldig?

Beermann: Meiner Auffassung nach ist ein Kind seinen Eltern nichts schuldig. Als Mutter oder Vater habe ich meinem Kind gegenüber eine bedingungslose Liebe. Die Kinder sollen und dürfen nehmen, weil sie sich daraus nähren. Die Quelle fließt von oben ins Meer, nicht rückwärts. Eltern macht es auch glücklich, wenn sie ihr Kind glücklich erleben. Das ist die Belohnung der Elternschaft.

Studierende sind häufig auf die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern angewiesen. Dürfen Eltern als Gegenleistung Erwartungen an die Kinder stellen?

Beermann: Ja, aber das ist je nach Situation sehr unterschiedlich. Manchmal muss man das Küken aus dem Nest schubsen. Ich habe als junger Mensch das Gefühl zu wachsen, wenn ich weiß, dass ich es ganz allein geschafft habe, mir zum Beispiel einen Job zu suchen und etwas Geld zu verdienen. Es gibt aber Studiengänge, in denen Kindern – selbst, wenn sie es wollten – keine Zeit und Energie für einen Nebenjob bleibt. Das muss beachtet werden, damit die Erwartungen an ein Kind nicht überhöht sind. Eltern und Kinder sollten gemeinsam aushandeln, wie sie das nächste Semester oder Jahr gestalten können. Auch Eltern können sagen, was sie geben können.

Die aktuelle Elterngeneration gibt oft sehr viel. Manchmal gilt sie als zu nah – Stichwort Helikopter-Eltern. Was macht das mit diesen Beziehungen im Erwachsenenalter?

Beermann: Wenn ein junger Erwachsener sich nichts traut und viele Rückversicherungen von anderen braucht, kann es daran liegen, dass er zu wenige Erfahrungen gemacht und zu wenig Zutrauen erlebt hat. Aber jede Familie ist einzigartig. Ich habe nicht erlebt, dass bei Helikopter-Eltern immer ein unmündiges oder unselbstständiges Kind herauskommt. Das Leben ist vielfältiger. Gerade aus der erlebten Enge und dem Wunsch nach Freiheit, der provoziert worden ist, haben sich junge Menschen auch freigekämpft, indem sie zum Beispiel ein Jahr in Südamerika verbracht haben.

Bei Entscheidungen wie der Wahl des Studiengangs beziehen junge Erwachsene mit ein, was ihre Eltern darüber denken werden. Das kann in Konflikt mit eigenen Wünschen und Vorstellungen stehen. Wie erkenne ich, ob ich frei entscheide oder eher aus Angst vor Ablehnung handle?

Beermann: Es ist wichtig, den eigenen Wünschen und Interessen zu vertrauen. Wenn ich nur deshalb Jura studiere, weil meine Eltern erwarten, dass ich Anwältin werde, ich mich aber nicht damit identifiziert kann und keinen Sinn darin sehe, steht noch ein Reifeprozess vor mir. Man sollte sich als junger Mensch die Frage erlauben, was man wirklich will. Wenn ich das herausfinde, habe ich ein glücklicheres Lebensgefühl.

Man sollte sich als junger Mensch die Frage erlauben,
was man wirklich will.

Warum ist es so schwer, sich von den Erwartungen der Eltern zu befreien?

Beermann: Es gibt ein universelles Grundbedürfnis, das man in allen Kulturen beobachten kann: Der Mensch möchte dazugehören. Daneben gibt es Regeln, die bestimmen, wie wir zusammenleben. Wir versuchen, sie zu erfüllen, weil unsere Zugehörigkeit dann am stärksten gesichert ist. Je mehr sich mein Wunsch von den bisherigen Regeln und Traditionen unterscheidet, desto mehr löst das die Angst in mir aus, dass ich meine Zugehörigkeit zur Familie verlieren könnte. Ich erlebe das im weitesten Sinne als eine existenzielle Bedrohung.

Wie gehe ich mit der Angst davor um, dass ich meine Eltern mit meiner Entscheidung enttäusche?

Beermann: Es braucht häufig ein Gespräch. Im Austausch lassen sich viele Monster zähmen. Manchmal hat ein junger Mensch das Gefühl, es sei ein Riesending. Er macht an bestimmten Annahmen fest, dass er seine Eltern enttäuschen wird. Er denkt zum Beispiel, sein Vater hätte ihn nicht mehr so lieb, wenn er das Studienfach wechseln würde. Wenn ich mit den Eltern spreche, stelle ich fest: Die Enttäuschung, die von der Kinderseite angenommen wird, wird von den Eltern nicht widergespiegelt. Die meisten Eltern sagen eher: „Ich finde es zwar schade, aber du enttäuschst mich nicht.“ Im Gespräch wird ein Prozess angestoßen, bei dem man sich von gegenwärtigen Erwartungen und Enttäuschungen verabschieden kann. Das Kind wird ermutigt, seinen Weg zu gehen.

Wie kann ich mich emotional von meinen Eltern besser abgrenzen?

Beermann: Auch hier hilft ein Gespräch mit allen wichtigen Familienmitgliedern. Stellt euch die Fragen: Wie wird die Beziehung zueinander erlebt? Wo sind Dinge, die die Beziehungen stärken oder schwächen? Was braucht jeder, damit er sich gut und gestärkt im Leben fühlt? Manchmal müssen die Eltern einfach nochmal die Erlaubnis aussprechen: „Sei glücklich und leb’ dein Leben! Ich stärke dir gerne den Rücken. Du verlierst uns nicht.“ So kann man sich die Zugehörigkeit und den Rückhalt versichern und mit dieser Kraft ins weitere Leben gehen.

Muss ich meine Eltern also immer miteinbeziehen?

Beermann: Es kann auch ein rein innerer Prozess sein. Zum Beispiel kann ich mit einem Systembrett die Familie in den Raum holen, obwohl sie nicht präsent ist. Das bieten auch psychologische Beratungsstellen an Hochschulen und Universitäten an. Der Student oder die Studentin kann mit Figuren die Familie so aufstellen, wie er oder sie sie im Inneren erlebt. Das kann sehr wirksam sein. Man kann auch einen Brief an den Vater oder die Mutter verfassen und darin alles schreiben, was man ihm oder ihr schon immer sagen wollte – erstmal ohne ihn abzuschicken.

Wie kann das helfen?

Beermann: Es zu verschriftlichen, ist ein Ritual, wie Tagebuch zu schreiben. Gefühle in Sprache zu bringen, hat etwas Befreiendes. Ich kann dabei herausfinden, um was es wirklich geht und welche Bedürfnisse ich habe. Sprache erzeugt Wirklichkeit. Wenn ich mich also weniger vorwurfsvoll ausdrücke und stattdessen die Liebe zu meinem Vater oder meiner Mutter betone, kann ich das Verhältnis zu meinen Eltern auf neue Füße stellen, wenn ich den Brief später einmal abschicken möchte.

Diplom-Soziologin, Systemische Beraterin und Therapeutin, Supervisor, Coach und Mediatorin Astrid Beermann (Foto: privat)

Hinweis: Wenn du dich psychisch belastet fühlst, wende dich an eine*n Therapeut*in. Helfen kann dabei das Online-Portal des Psychotherapie-Informationsdiensts unter https://www.psychotherapiesuche.de/pid/search. Außerdem bietet das Studentenwerk Würzburg eine psychotherapeutische Beratung an. Mit einer E-Mail an pbs-bamberg@studentenwerk-wuerzburg.de oder einem Anruf unter der Nummer 0931/8005-820 während den Sprechzeiten am Dienstag von 11 bis 12 Uhr oder Donnerstag von 14 bis 15 Uhr kannst du einen Termin vereinbaren. Die Beratung kann telefonisch, per Video oder persönlich in Bamberg stattfinden. Bei der Anmeldung fällt eine einmalige Gebühr von 10 Euro an, die Beratung selbst ist kostenlos.

Schnell kann auch das Krisentelefon der „TelefonSeelsorge“ helfen, das unter 0800 1110111 und 0800 1110222 rund um die Uhr und anonym erreichbar ist. Auch die „Nightline Bamberg“, das Zuhörtelefon von Studierenden für Studierende, kannst du bei Bedarf unter der Telefonnummer +49 157 352 335 03 montags, mittwochs und donnerstags von 21 bis 24 Uhr erreichen.

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