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Hong Kong Breakdown

Hong Kong Breakdown

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  • Du bist so eine unfassbare Enttäuschung. Ich kann dir nicht mehr in die Augen schauen, ohne mich für dich zu schämen!“ Friederike ist 19 Jahre alt, als ihre Gastmutter ihr diesen Satz ins Gesicht schmettert.

Scheitern, ganz persönlich – Teil 2

Alleine in einer fremden Stadt in einem fernen Land, wo ihr nichts bekannt und niemand vertraut ist. Zudem mitten in einer Kultur, die zu der unseren nicht gegensätzlicher sein könnte. Sie hatte sich nach ihrem Schulabschluss die Millionenmetropole Hongkong ausgesucht, um dort als Aushilfslehrerin zu arbeiten. Tagtäglich fährt sie von ihrer Gastfamilie, die im Hongkonger Vorort Clearwater Bay wohnt, eine Stunde lang zusammen mit unzähligen Anderen in einer überfüllten und miefenden U‑Bahn in das Zentrum der Stadt. Dort befindet sich die Schule, an der sie Grundschülern Deutsch und Mathematik beibringt. Bei jährlichen Schulgebühren von satten 16 000 Euro sind die Erwartungen an sie entsprechend hoch.

Zwei schrecklich nette Kinder

Nach ihrem achtstündigen Arbeitstag und dem langen Heimweg warten die Kinder des bilingualen Ehepaares Strunz auf sie. Der Vater vertritt in Hongkong ein deutsches Unternehmen. Die Kinder sieht er nur an den Wochenenden. Seine Frau Anisha hat er während eines Urlaubs auf den Philippinen kennengelernt. Sie hat ihre Freunde und Familie zurückgelassen, um sich ein gemeinsames Leben mit ihm in der Großstadt aufzubauen. Nachmittags soll Friederike den beiden Kindern im Alter von fünf und sieben Jahren deutsche Texte vorlesen. Allerdings keine Lektüre, die ihrem Sprachniveau entspricht, sondern Bücher für Fortgeschrittene, bei denen die Konzentration der beiden nach dem zweiten Satz rapide sinkt. Aber Desinteresse oder fehlende Aufmerksamkeit sind nur zwei der täglichen Begleiter ihrer Zeit mit Marcel und Leon. Sie bleiben nicht ruhig am Tisch sitzen, hören weder auf die Haushaltshilfe noch auf ihre eigene Mutter, und kommunizieren untereinander mit Lauten, die sie aus chinesischen Trickserien kennen. Ihre gesamte Freizeit verbringen die Kinder vor dem Fernseher, sie gehen nicht raus, um Schulkameraden zu treffen, und betreiben keine Sportart, bei der sie ihrer Energie freien Lauf lassen könnten. Die Versuche der Mutter, ihre Kinder zur Ordnung zu rufen, enden im Extremfall mit einer saftigen Backpfeife.

… und ihre Mutter

Friederike versucht, sich zu den Kindern durchzukämpfen und ihnen mit Nachdruck beizubringen, ruhig am Tisch sitzen zu bleiben oder zu fragen, wenn sie aufstehen möchten. Tatsächlich gelingt es ihr, einige Regeln durchzusetzen. Das Problem dabei ist nur, dass Leon und Marcel sich jetzt nur noch an Friederike wenden. Gastmutter Anisha spürt, dass ihre dominante Position im Familiengefüge ins Wanken gerät. Dies veranlasst sie aber nicht, es Friederike ansatzweise gleich zu tun und sich mit den Kindern aktiv auseinanderzusetzen. Stattdessen wird ihre Gasttochter zum Feindbild. Anisha beginnt, ihrem Mann gegenüber Friederikes Arbeit schlecht zu machen.

Ihre Gasttochter wird zu ihrem Feindbild.

Sie sei unkonzentriert, inkompetent und unzuverlässig. Während sie damit immer weitermacht, drängt der Vater auf sichtbare Lernerfolge der Kinder. Er ist der Deutsche in der Familie und möchte sich in möglichst kurzer Zeit mit seinen Kindern auf einem angemessenen Niveau unterhalten können. Bis dato verläuft die Kommunikation auf Englisch.

Engagement = großer Fehler

Friederike überlegt, wie sie den beiden Jungs zu besseren Lernerfolgen verhelfen könnte. Wie wäre es denn, den Unterricht mit den Kindern etwas interaktiver zu gestalten? Anisha platzt der Kragen. Sie wird laut, fängt an, hysterisch in höchsten Tönen zu schreien. Sie solle sich gefälligst nicht so weit aus dem Fenster lehnen, wenn sie eh nichts zustande bringe. Ob sie mit ihrer geringen Lebenserfahrung glaube, Erwachsenen vorschreiben zu können, wie sie ihre Kinder zu erziehen haben? Ob sie eine Ahnung habe, was für ein Privileg es sei, dass sie bei ihnen aufgenommen worden sei? Ob sie das überhaupt zu schätzen wisse?
Der Monolog zieht sich über eine gefühlte Ewigkeit. Friederikes Versuche, etwas zu entgegnen, gehen in noch lauterem Geschrei unter. Friederike bricht zusammen.

Neuer Aufbruch

„Mein Selbstbewusstsein war am Boden“, sagt sie. Sie fühlt sich klein, schwach, unbedeutend. Gescheitert. Ihre Tage in der Familie sind von da an gezählt. Einen letzten Monat steht sie ihren Alltag neben einer Frau aus, der der Hass nur so aus den Augen sprüht, wenn sich ihre Blicke kreuzen. Das Privileg, das Friederike bleibt, ist, dass sie – anders als Anisha – der Familie, in der sie sich nicht wohl fühlt, den Rücken kehren kann. Im Stadtzentrum wartet eine andere Familie darauf, dass Friederike bei ihnen einzieht und nachmittags interaktiv mit den Kindern für die Schule lernt.

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