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Von Eritrea nach Europa: Die Geschichte einer Flucht
Dunkel Hell

Von Eritrea nach Europa: Die Geschichte einer Flucht

  • Mittlerweile ist Natzinet in Deutschland angekommen. Er lebt mit Jugendlichen seines Alters in einer Wohngruppe in einer bayerischen Kleinstadt. Alle erlebten sie das gleiche Martyrium – die lebensgefährliche Flucht über das todbringende Mittelmeer und durch von Leid und Krieg gezeichnete Länder. Dies ist Natzinets Geschichte.

Natzinet (Name geändert) weiß, dass tief unter seinen Füßen ein Massengrab liegt. Er hat es auf seiner Reise gehört, viele Male. Nun ist er diesem Ort sehr nahe gekommen, aber Natzinet hat Glück. Er bleibt oben, an Deck des rostigen, schwankenden und knarzenden Kahns. Hier kann er die tosenden Wellenberge sehen. Hier kann er die modrige Meeresluft riechen. Hier kann er die salzige Gischt schmecken, wenn die Wellen in den Kahn hineinschwappen. Eine Etage tiefer, im Bauch des Schiffes, hat der Überlebenskampf bereits begonnen. Die Luft ist zum Schneiden. Sie ist stickig, fast frei von Sauerstoff. Von der hölzernen, leicht schimmligen Decke tropft der kondensierte Schweiß von 200 dicht an dicht gedrängten Menschen, während draußen der Kahn von Wellenberg zu Wellenberg ächzt. Das Ende der Reise ist zum Greifen nah – Europa. Doch Natzinet weiß: Lange hält das Schiff nicht mehr stand.

Begonnen hat Natzinets Reise neun Monate zuvor, rund 3.700 Kilometer entfernt, in einem kleinen Dorf im Westen Eritreas. An einem sonnig warmen Montagmorgen um zehn Uhr verließ der damals 16-Jährige das Haus seiner Eltern. Es war das geistige Gefängnis, in dem er nicht mehr leben wollte, die Beschneidung seines Verstands, die er nicht länger ertrug. Natzinet drohte keine unmittelbare physische Repression, keine Haft, wie sie sein Vater, ehemals regimetreuer Soldat, erlebt hatte. Aber das ständige Gefühl, sein Handeln und Denken auf die Vorgaben des diktatorischen Regimes ausrichten zu müssen, machte ihn kaputt.
Deshalb lief Natzinet an diesem Morgen zum Bus. „Ich fühlte mich wie jemand, der gerade alles verlor, was er besaß: Familie, Freunde, Heimat.“ Nur ein Fotoalbum und ein Tagebuch trug er bei sich. Die hatte er sich in den Innenbund seiner Hose gesteckt, sodass niemand sie sehen konnte. Kein Rucksack, keine Tasche – das würde nur Aufmerksamkeit erregen, hatte Ayman, sein sudanesischer Schlepper, am Telefon gesagt. Mit dem Bus fuhr er in ein Dorf nahe der sudanesischen Grenze, wo Ayman bereits auf ihn wartete. Wie abgemacht, überreichte Natzinet ihm 800 Nafka, rund 200 Euro. Erspartes, das ihn zunächst einmal bis in den Sudan bringen sollte.

17 Stunden lang marschierten sie – durch die blutrote Dämmerung des Abends, durch die Finsternis der Nacht, durch militärisches Sperrgebiet, über kargen und steinharten Lehmboden, bis sie bei Sonnenaufgang endlich ihr Ziel erreichten: eine kleine Stadt im Sudan in sicherer Entfernung zur Grenze. Hier würde Natzinet vom Roten Kreuz abgeholt werden, teilte Ayman ihm zum Abschied mit. Und tatsächlich, nach etwas mehr als einer Stunde Warten erschien ein weißer Jeep. Auf ihm prangte ein rotes Kreuz.

Man brachte ihn in das Flüchtlingslager bei Shagarab, in dem tausende geflüchtete Eritreer vom UN-Hilfswerk versorgt werden. Aber Natzinet merkte schnell: Hier konnte er nicht lange bleiben: „Es fehlte an Essen und an sauberem Wasser. Es wurde gestohlen und geprügelt.“ Zwei Monate musste er ausharren, zwei Monate durchhalten, bis ihm seine in Südafrika lebende Tante das Geld schickte, das ihn weiter Richtung Europa brachte, nach Khartum, in die sudanesische Hauptstadt. Wieder musste er einen Schlepper bezahlen und wieder dauerte es eine ganze Nacht, bis er dieses Etappenziel erreichte – auf einem Lastwagen, dessen Ladefläche provisorisch mit einer Plane bedeckt war, unter der Natzinet sich gemeinsam mit 17 anderen Eritreern vor der gefürchteten sudanesischen Polizei versteckte.

In Khartum lebte Natzinet bei einem Freund seines Vaters. Er konnte nicht weiter, denn der Winter kam. „Viele Freunde haben erzählt, es sei wahnsinnig, im Winter das Mittelmeer zu überqueren. Da gibt es so viele Stürme, da wird die See zum Massengrab.“ Also schlug er sich vier Monate lang mit Gelegenheitsjobs für einen pensionierten sudanesischen Generalmajor durch, bis Ende Februar. Als der Frühling nahte, stiegen die Chancen, das Mittelmeer lebend zu überqueren. Er hatte Angst beim Gedanken daran, aber er musste weiter, sein Ziel Europa immer vor Augen.

In einer sternenklaren Nacht ging es los –nach Tripolis, Libyen, ans Mittelmeer. Ein Lastwagen, beladen mit 23 Frauen, Männern und Kindern, brachte Natzinet an die libysche Grenze. Dort wurde die Gruppe auf die Ladeflächen von vier Pick-ups verfrachtet – schutzlos der Witterung ausgesetzt. Es folgte eine der gefährlichsten Etappen der Reise. Drei Tage und drei Nächte fuhren sie durch die Libysche Wüste – ein schier unendliches Meer aus Sand – tagsüber der sengenden Hitze ausgeliefert, nachts dem Erfrieren nahe, immer den staubigen Sand auf der Zunge, der bis in jede noch so kleine Spalte des Körpers vorzudringen schien. Es ging quer durch Libyen, diesen zerfallenen Staat, umkämpft von Rebellen- und Regierungstruppen sowie dem IS. „Nachts, bei Rast, hörte man in der Ferne das Artilleriefeuer, es glich einem rhythmischen Trommeln“. Nach Tagen und Nächten der Furcht erreichten sie die am Mittelmeer gelegene libysche Hauptstadt.

Tripolis, das Tor nach Europa. Wie durch Nadelöhr zwängen sich hier unzählige Menschen hindurch, um mit dem Schiff nach Europa überzusetzen. Natzinet wartete mit tausenden anderen Flüchtlingen in einer riesigen, leerstehenden Fabrikhalle. Es war bereits März. Jeden Morgen hoffte er, dass sein Name aufgerufen würde. Dass er endlich an der Reihe wäre. Doch dann erreichten ihn Nachrichten, die ihn an seinem Plan zweifeln ließen: „Zwei Schiffe sind gesunken und mit ihnen rund 300 Menschen – ich hatte unglaubliche Angst.“ Sollte er vielleicht in Afrika bleiben und das Mittelmeer vergessen? Sollte er nach Eritrea zurückkehren – zu Familie und Freunden – stets dem Risiko ausgesetzt, dort aufgrund seiner versuchten Flucht von der Polizei verhaftet zu werden und auf unbestimmte Zeit in einer dunklen, kargen Zelle der zahlreichen Geheimgefängnisse des Regimes zu verschwinden? Nein, für ihn gab es nur das eine Ziel: Europa. Und bereits am folgenden Tag rief man früh morgens seinen Namen.

Jetzt steht er angsterfüllt auf dem alten, rostigen Kahn und um ihn herum tobt die See. Würde auch er sich auf dem Meeresgrund wiederfinden? Am Horizont erscheint ein Schiff. Rasch nähert es sich. Es war der Schlepper, der die italienische Küstenwache zu Hilfe gerufen hat. Sie kommen mit kleinen Booten, nehmen zuerst die Kinder und Frauen, die Schwachen und Alten mit. Dann ist Natzinet an der Reihe. Er hat es geschafft, er hat Europa erreicht.

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