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„Entschuldigung, ich wohne hier“
Dunkel Hell

„Entschuldigung, ich wohne hier“

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Etwa eine Woche davor fängt es mit den Dixi-Klos an. Auf einmal sind sie überall. Eine wahre Invasion aneinandergereihter blauer Plastikkästen mit weißen Herzchen auf der Tür. Als doch noch recht frische Bambergbewohnerin und Geschichtsstudentin, die sich oftmals lieber mit vergangenen Jahrhunderten als dem Tagesgeschehen beschäftigt, kommt mir der wahre Grund für die blauen Behelfstoiletten direkt vor meiner Haustür gar nicht in den Sinn. Stattdessen spinne ich wilde Verschwörungstheorien: Ist Wacken nach Bamberg umgezogen und wir haben bald Horden schwarz gekleideter Metalanhänger in der Stadt? Hat das nächtliche Wildpinkeln der feierwütigen Studierenden umweltschädliche Ausmaße erreicht und die Dixi-Klo-Armee ist die Gegeninitiative unseres Bürgermeisters?

Verhängnisvolles Frühstück

Erst zwei Tage später, als die ersten Wegweiser, auf denen in großen grünen Lettern „Ziel“ prangt, auftauchen, muss ich meine Hirngespinste von neuen Umweltschutzmaßnahmen aufgeben und mich dem allgemeinen Hype beugen, der auf einmal ganz Bamberg ergriffen hat. Der Weltkulturerbelauf findet statt – und legt die ganze Stadt einen Sonntag lang lahm.

Als ich Sonntagmorgen um Elf von einem Freund in Gaustadt, dem ich unklugerweise einen Frühstücksbesuch abgestattet habe, wieder Richtung Innenstadt aufbrechen will, wünscht er mir nur zynisch eine gute Reise. Der fahrradlose Freund hat sich schon längst von der Idee verabschiedet mit dem Bus in die Unibib zu fahren, um dort an seiner Hausarbeit zu schreiben. Es gibt nämlich keinen Bus. Wer braucht auch schon Forschungsliteratur, wenn er doch den Weltkulturerbelauf in der Stadt haben kann? Ich bin verständnislos gegenüber seinem Pessimismus. Mit dem Fahrrad sollte das doch kein Problem sein. Es gibt schließlich genug Wege zurück in die Innenstadt.

Das ist ja eine ganz tolle Idee, da heute mit dem Fahrrad durch zu wollen.

Das erste grüne Absperrband flattert mir schon auf dem Regensburger Ring entgegen. Keine 200 Meter später gibt mir der erste Feuerwehrmann mit irritiertem Kopfschütteln zu verstehen, dass ich da jetzt auf keinen Fall lang kann. Nach einer wahren Odyssee vorbei an grünen Absperrbändern und schwitzenden Läufern, nähere ich mich inmitten einer riesigen Menschentraube marathonbegeisterter Zuschauer im Schneckentempo meiner WG, die genau neben dem Maxplatz liegt. Das Fahrradfahren habe ich längst aufgegeben und schiebe es resigniert neben mir her. Es sind höchstens noch fünf Meter zu meiner Haustür als mich eine Frau in pinken, knallengen Sportleggins mit hochrotem Kopf und einer Statur, die nicht unbedingt auf eine athletische Karriere als Marathonläuferin hindeutet, anraunzt: „Das ist ja eine ganz tolle Idee, da heute mit dem Fahrrad durch zu wollen“. Ziemlich verdutzt stammle ich: „Entschuldigung, ich wohne hier.“ Aber dass ich hier auch die restlichen 364 Tage im Jahr verbringe und dafür sogar Miete zahle, scheint keine plausible Entschuldigung für meinen dreisten Versuch zu sein, nach Hause zu kommen. Für den Weltkulturerbelauf hat man sich gefälligst allen Umständen anzupassen, mögen sie noch so widrig sein.

Eichhörnchen-Selfies und Hexen

Endlich zuhause angekommen erscheint es selbst mit Oropax völlig unmöglich, sich auf meine dringend notwendige Referatsvorbereitung zu konzentrieren. Enthusiastische Touristen jubeln den Strömen von Läufern zu und die Frau in den pinken Leggins gibt unten auf der Straße lautstark Tipps für Ausdauertraining (Sie selbst nimmt übrigens nicht am Lauf teil. Sie würde ja so gerne, aber ihr Knie macht leider mal wieder Probleme). Um drei gebe ich mein Referat schließlich auf und beschließe mir das Spektakel doch mal näher anzuschauen.

Für die meisten Läufer zählt in ester Linie die Gaudi — Foto: Maximilian Krauss

Am Startpunkt des 21 Kilometer langen Laufes bietet sich mir, der unerfahrenen Weltkulturerbelaufzuschauerin, eine bizarre Szenerie: Zu lautstarker Volksmusik, die in mir eher den Wunsch weckt mich ins Bett zu verkriechen als einen Halbmarathon zu laufen, starten über 3000 Läufer zu einem der anspruchsvollsten Läufe Europas. Während einige ausgerüstet sind als ob sie einen wochenlangen Survivaltrip durch die Wüste planen würden, haben andere nicht einmal richtige Laufschuhe an. Ein Läufer trägt eine Pelzmütze in Form eines Eichhörnchens auf dem Kopf und macht Selfies von sich während er startet. Neben mir feuert eine von Kopf bis Fuß grün angemalte Frau mit Hexenhut die Teilnehmer an. Und dafür wird die halbe Stadt lahmgelegt? Die Begeisterung, die offensichtlich die ganze Stadt fest im Grifft hat, hält sich bei mir in Grenzen.

Späte Einsicht

Aber je länger ich den Lauf verfolge, desto mehr wandelt sich mein irritiertes Unverständnis in Faszination. Es scheint als ob die ganze Stadt läuft. Überall in den verwinkelten Gassen trifft man zwischen grünem Absperrband auf Läufer – je nachdem auf welchem Kilometer mehr oder weniger fit. Und jeder macht mit: Junge Mädchen mit Micky-Maus-Shirts und pinken Haarsträhnen, durchtrainierte Männer, die aussehen als ob sie jedes Wochenende einen Marathon laufen, Großväter, deren Enkel ihnen am Wegesrand mit „Du-schaffst-das-Opi“-Schildern zuwinken. Spätestens beim Zieleinlauf auf dem Maxplatz hat mich der Hype um den Weltkulturlauf gepackt und ich ertappe mich selbst beim Klatschen als der Mann mit der Eichhörnchenmütze — zwar schweißüberströmt aber freudestrahlend ‑im Ziel ankommt. Natürlich macht er erstmal ein Selfie unter dem Zielbanner.
Vielleicht sollte ich auch mal mit Training anfangen. Der nächste Weltkulturerbelauf ist ja schon in zwei Jahren.

Einen Tag später ist von dem Spektakel schon nichts mehr übrig. Nur die blauen Dixi-Klos stehen immer noch auf der Straßenseite gegenüber meiner Haustür.

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