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Die Busfahrt des Wahnsinns
Dunkel Hell

Die Busfahrt des Wahnsinns

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  • Endlich sind die Semesterferien da, aber was fängt man mit der freien Zeit eigentlich an? In unserem Semesterferien Special erzählt jede Woche ein Ottfried-Redakteur, wozu er die Zeit zwischen den Semestern genutzt hat. Dieses Mal: auf der Suche nach Behindertentoiletten in Oslo. Als Betreuerin von einer Behindertenreise nach Norwegen kommt unsere Autorin an ihre Grenzen – und wächst über sich hinaus.

Wie viele Behindertentoiletten gibt es in Bergen? Wie breit sind Badezimmertüren in Osloer Hotels? Wo findet man nachts in Stavanger Antidepressiva und kann man auf dem Jostedalsbreen Gletscher mit einem Rollstuhl ins Wasser fahren? Und am allerwichtigsten: Wo ist der Bacon?!

Falls sich irgendjemand jemals in einer dieser Situationen wiederfinden sollte, kann er sich gerne an mich wenden – ich habe im vergangenen Sommer alles erlebt: nächtliches Windeln wechseln, haarsträubende Bergfahrten, Schneeballschlachten in Hotpants und Landschaften, die aussehen, wie aus einer Postkarte ausgeschnitten.

Aber von vorne: 2016 absolvierte ich ein Praktikum in Organisationspsychologie bei einer sozialen Einrichtung, die Wohnstätten, Schulen, Werkstätten und Berufsbildungswerke für Menschen mit Behinderung unterhält. Ich wurde – ungewöhnlich für ein studentisches Praktikum – weit über den Wert meiner Arbeit hinaus bezahlt, durfte viele verschiedene Bereiche ansehen und bekam, obwohl ich keine Ahnung von irgendetwas hatte, weit mehr zu tun, als Kaffee zu holen und den Kopierer zu bedienen. Denn wenn es mal wieder keine bürokratischen Aufgaben für mich gab, begleitete ich die (meist körperlich) beeinträchtigten Klienten ins Kino, zu Arztterminen oder auf Konzerte. So rutschte ich langsam in die Freizeit-Abteilung hinein, die kulturelle Veranstaltungen, Reisen und Aktivitäten für Menschen mit Behinderung organisierte. Um sich als „Ehrenamtlicher“ für ein solches Freizeitbüro zu engagieren, braucht man wenig mehr als körperliche Gesundheit, ein Führungszeugnis und die nötige Zeit. „Ehrenamtlicher“ ist in Anführungszeichen gesetzt, weil ich dennoch 10 Euro pro Stunde bekam. Es machte mir Spaß, ich war jung und brauchte das Geld, eines führte zum anderen und so arbeitete ich auch nach meinem Praktikum weiterhin dort und landete schließlich im Betreuungsteam für eine sechzehntägige Reise nach Norwegen.

Wir waren eine Gruppe bestehend aus vier Betreuern und 21 Menschen mit physischen, geistigen und psychischen Behinderungen. Offiziell sollte ich nur die Pflege und Betreuung von Klienten bis zur Pflegestufe 3 übernehmen; da jedoch viele von ihnen auf dem Papier gelogen hatten, um Geld zu sparen oder um überhaupt mitfahren zu dürfen, war ich letztendlich für Menschen aller Pflegestufen verantwortlich. Eines vorweg: Die hundert Euro am Tag, die ich bekam, waren hart verdient. Wir waren 24 Stunden im Einsatz, standen oft nachts auf, um Windeln zu wechseln oder Rollstuhlfahrer aufs Klo zu bringen, fütterten, hoben, wuschen und unterhielten die Klienten und wurden, wenn wir nicht aufpassten, gelegentlich von einem Rollstuhlfahrer am Hintern begrapscht. Nichts davon hatte ich je zuvor getan oder erlebt, es war ein Wurf ins kalte Wasser, absolutes Learning by Doing. Die ultimative Katastrophe ereignete sich dann am achten Tag: Es gab keinen Bacon zum Frühstück! Drama! Panik! Wir konnten erst in den Tag starten, als unter Schweiß und Tränen neuer Bacon organisiert worden war; vorher ließen sich zwei unserer Mitfahrerinnen einfach nicht beruhigen.

Warum tat ich mir das an? Nun, zum einen war da Norwegen. Die eingeschränkte Mobilität vieler Gruppenmitglieder hinderte uns nicht daran, mit dem Bus über Oslo, Stavanger und Bergen bis weit in den Norden des Landes zu fahren. Mir ist es mittlerweile unverständlich, dass so viele junge Menschen (auch ich) nach ihrem Abitur nach Neuseeland fahren, denn Norwegen bietet nicht minder beeindruckende Landschaften: Seen, die die umliegenden Berge so klar spiegeln, dass man auf Bildern manchmal nicht sagen kann, wo oben und wo unten ist; Gletscher, endlose Wälder, Klippen in Tausenden Metern Höhe, Fischerdörfer mit unaussprechlichen Namen, hochmoderne Städte mit freundlichen und überdurchschnittlich schönen Menschen. An einem Tag fuhren wir bei 32 Grad auf einen Berg und standen nach einer Stunde Fahrt auf einmal mit T‑Shirts und kurzen Hosen mitten im Schnee. Ein anderes Mal kamen wir nicht voran, weil die gesamte Straße von mindestens hundert Schafen versperrt wurde, die sich von uns wenig stören ließen. Wir tranken frisches Quellwasser (normales Wasser wird wohl keinem von uns je wieder schmecken), sahen Elche und grillten (nicht ganz legal) vor einem Regierungsgebäude in Oslo.

Auch, wenn wir Betreuer manchmal nächtelang nicht schliefen, ich jeden Klienten im Laufe der zwei Wochen jeden mindestens einmal gerne gegen die Wand geworfen hätte und mir in den schwierigen Anfangszeiten schon die Tränen kamen, wenn ein Rollstuhl nicht durch die Badezimmertür passte: Nie werde ich vergessen, wie man zwischen Menschen mit Behinderung lernt, die Welt neu wahrzunehmen. Nicht nur, dass man sich bei jedem Gebäude als erstes fragt: Haben die eine Behindertentoilette, eine Rollstuhlrampe, breite Gänge? Behinderte bringen dich auf ihre Augenhöhe und zeigen dir, oft ohne Worte, wie sie ihre Umgebung sehen: Gesunde Menschen als eine Mischung zwischen unverständlicher Gottheit und potentieller Bedrohung; Mengen, die sich vor dir teilen, wie das Rote Meer sich vor Moses geteilt haben muss. Die Schönheit Norwegens hat plötzlich noch eine völlig andere, für uns „Normalos“ nie zu erschließende Dimension, wenn man weiß, dass dies der vielleicht einzige Auslandsaufenthalt eines Lebens sein wird. Immer im Hinterkopf die ständige Angst, dass alles schiefgehen könnte, und die Erleichterung, wenn es das nicht tut (auch, wenn nie alles nach Plan läuft). Manche der Reisenden wussten, dass sie nicht älter als dreißig werden würden. Andere, unter ihnen auch Jugendliche, waren früher gesund und wurden durch einen Unfall vollständig gelähmt. Die meisten hatten nie eine Beziehung; sämtliche Kinder, die mitfuhren, leben getrennt von ihren Eltern in behindertengerechten Wohnheimen und Internaten. Und dennoch habe ich nie glücklichere Menschen gesehen. Ich würde mir wünschen, dass viel mehr Leute die Möglichkeit hätten, die Erfahrungen zu machen, die ich in Norwegen gemacht habe. An ihre Grenzen zu kommen, körperlich und mental, aber weiterzumachen, um Menschen, die es verdienen, das Abenteuer ihres Lebens zu ermöglichen.

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