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Dicke Luft
Dunkel Hell

Dicke Luft

  • Der Motor heult auf, blaue Blitze erleuchten den Nachthimmel, brennende Reifenspuren sind auf dem Asphalt zu erkennen — das ist alles, was von dem silbernen Sportwagen übrig geblieben ist. Jesus Christ! Es ist der 21. Oktober 1985. Marty McFly hat sich soeben mit seinem als Zeitmaschine aufgerüsteten DeLorean DMC-12 auf den Weg gemacht: in die Zukunft. Dank des mit Plutonium betriebenen Fluxkompensators erreicht er unsere Gegenwart, den 21. Oktober 2015.

Wie gut, dass er nicht in einem umgebauten Volkswagen gefahren ist. Sonst wäre er womöglich noch gefragt worden, ob er mit seinem Wagen überhaupt Zeitreisen unternehmen oder schlicht noch damit fahren darf. 14,3 Liter Super plus schluckt der DeLorean mindestens auf 100 Kilometer, 1,2 Tonnen Gewicht bringt er auf die Waage, leistet mit seinem 2,8 Liter V6-Motor gerade einmal 132 PS, was für den Sprint von Null auf 100 km/h in 11 Sekunden und für knapp 200 km/h Spitze reicht. Wenigstens ist die Karosserie aus rostfreiem, blank poliertem Edelstahl. Abgaswerte? Will man nicht wirklich wissen. Und selbst wenn sie schwarz auf weiß in der Betriebsanleitung stünden, sie hätten in diesen Tagen erheblich an Glaubwürdigkeit eingebüßt.

Gelogen und betrogen, retuschiert, geschönt und geschummelt hat der Konzern, der „das Auto“ baut, und damit einen Schaden auf die gesamte Autobranche geworfen. Nur um besser auf dem Weltmarkt bestehen zu können. Deutschland hat somit wieder einen waschechten Skandal. Endlich etwas, worüber sich die Nation aufregen kann! Schließlich gehört insbesondere die Baureihe „Golf“ zu den meistgefahrenen Autos in der Bundesrepublik. Daher ist es nur nachvollziehbar, dass jeder mitreden möchte. Die Manipulationen wurden nach einem Bericht der US-Umweltbehörde Environmental Protection Agency (EPA) Mitte September dieses Jahres aufgedeckt. An rund elf Millionen Fahrzeugen mit Dieselmotor der Marken VW, Audi, Škoda und Seat wurden die Abgaswerte mittels einer Softwaresteuerung so verändert, dass sie den regiden Anforderungen des US-Marktes entsprechen konnten.

Doch auch auf europäischen Straßen fahren „geschönte“ Wagen des VW-Konzerns. Dessen ehemaliger Chef, Martin Winterkorn, hat zeitnah seinen Posten als Vorstandsvorsitzender geräumt; zahlreiche Länder haben Ermittlungsverfahren gegen VW eingeleitet, darunter die USA, Deutschland, Frankreich und Italien. Noch ist nicht absehbar, welche Konsequenzen sich daraus für die Wolfsburger Autobauer ergeben werden. Doch eines ist jetzt schon klar: Es wird teuer. Auf zweistellige Milliardenforderungen muss man sich in Niedersachsen gefasst machen und auch Arbeitsplätze werden verloren gehen, vom Imageverlust ganz abgesehen.

Den Amerikanern imponiert Winterkorns Verhalten. Dort sieht man die Dinge pragmatischer. Sicher, VW hat einen Fehler gemacht, dafür müssen die Wolfsburger bezahlen. Fall erledigt.

In Deutschland trifft man dagegen einen wunden Punkt. Drama, Entrüstung: Ja, das können wir schon gut. „Made in Germany“ werde bald kein Gütesiegel mehr sein, gar vom möglichen Erlöschen der Betriebserlaubnis einzelner Fahrzeuge ist die Rede, mit Nachdruck wird eine Staatsaffäre herauferschworen. Doch über was regen wir uns eigentlich auf? Natürlich sind die Manipulationen handfester Betrug, aber für den einzelnen Fahrer bedeutet das nun wirklich wenig. Weder verbraucht der Motor weniger oder mehr als vorher, noch ist es generell besser oder schlechter VW einer anderen Marke vorzuziehen. Es geht um manipulierte Abgaswerte. Gefahr für Leib und Leben besteht nicht, es sei denn, man atmet die Dämpfe aus dem Auspuff aus nächster Nähe ein. Doch dann ist es ziemlich egal, ob diese von einem Diesel- oder einem Benzinmotor erzeugt werden.

Der amerikanische Autobauer General Motors muss sich indes seit 2014 rechtfertigen, defekte Zündschlösser in seine Fahrzeuge verbaut zu haben, die während der Fahrt versehentlich in die „Aus“-Stellung sprangen und so Motor, Airbags und elektronische Sicherheitssysteme lahmlegten. Das ist ein Skandal, der über hundert Todesopfer gefordert hat. Letztes Jahr wurden die Umstände bekannt, von den Vorgängen wusste man in der Konzernspitze in Detroit schon länger und hat wissentlich intern nichts dagegen unternommen. Konsequenz: vorerst 900 Millionen Dollar Strafe plus Entschädigungszahlungen an die Hinterbliebenen der Opfer. Zum Vergleich soll VW wegen „dicker Luft“ schon mindestens 18 Milliarden Euro einkalkulieren. Verhältnismäßigkeit? Nicht gegeben.

Von den Abgaswerten abgesehen sind andere Ungereimtheiten in der deutschen Autobranche schon länger bekannt. In puncto Kraftstoffverbrauch sind die auf dem Papier angegebenen, realitätsfremden Werte vieler Fahrzeuge im Alltagsbetrieb unmöglich einzuhalten, das sollte keinen mehr überraschen. Darüber regt man sich auch nicht sonderlich auf, man weiß und akzeptiert es — schulterzuckend. Zudem lässt die Politik die Autobauer gewähren, schließlich soll die Wirtschaft brummen, da scheinen dubiose Messmethoden nur sekundär wichtig zu sein.

Höher, schneller, weiter — dem Motto der olympischen Spiele folgt bislang auch die Autobranche. Immer sparsamer, dabei innovativer und leistungsfähiger müssen die Wagen sein, um dem Konkurrenzdruck gewachsen zu sein. „BlueEFFICIENCY“, „Clean Diesel“, „Eco“: Das sind die Zusätze an den Kofferraumdeckeln, die Sauberkeit und Schonung der Umwelt suggerieren, zumindest aber das Gewissen beruhigen sollen. Doch auch ohne physikalische Kenntnisse ist klar: mehr Leistung, das geht nur mit mehr Energie. Am hart umkämpften US-Markt wusste man sich bei VW daher wohl nicht anders zu helfen, als zu schummeln. Grotesk wirkt jetzt ein alter Werbespot des Konzerns, in dem eine ältere Dame ein blütenreines Taschentuch an den Auspuff eines VW hält, um ihren Freundinnen zu beweisen, wie sauber die Abgase sind. Sie hat die Duftprobe im Nachgang unbeschadet überstanden, man zollte der Technik Anerkennung.

Kann und darf uns der Skandal egal sein? Nein, sicherlich nicht. ändern können wir daran nichts. Allerdings tragen wir mit unserer Aufregung auch dazu bei, das Image von VW noch mehr in den Boden zu stampfen. Und daran kann uns nicht gelegen sein. Es geht schließlich um unsere Wirtschaftskraft, unsere Arbeitsplätze und unser Ansehen. Etwas mehr „amerikanische“ Gelassenheit würde uns gut zu Gesicht stehen. Viel wichtiger sind die Folgen dieser aktuellen Entwicklungen, denn es muss darüber nachgedacht werden, wie die Zukunft des Dieselmotors aussehen soll. Wollen wir umweltbewusster unterwegs sein, dann fahren wir nicht Diesel, dann schon eher Fahrrad oder gehen zu Fuß. Wer es sich leisten kann und umweltbewusst agieren will, der kauft sich beispielsweise einen Toyota Prius oder einen Tesla. Es müssen mehr wirkliche Alternativen zu Verbrennungsmotoren entwickelt werden, darauf sollten sich jetzt die Entwicklungsabteilungen der Autohersteller konzentrieren und diese Projekte nicht aus reinen Prestigegründen betreiben.

Privat fahre auch ich, wie so viele Deutsche, einen VW Golf: 2.0 Liter Diesel, Verbrauch knapp fünf Liter auf 100 Kilometer, Leistung 150 PS, insgesamt zufriedenstellend. Aufregen dürfte ich mich daher über den Skandal ohnehin nicht, denn mein Fahrzeug ist laut VW-Website nicht von der Manipulation betroffen.

Schade eigentlich, wäre eine nette Abwechslung gewesen. Wahrscheinlich regen sich deswegen so viele Menschen im Lande darüber auf. Der Skandal scheint ein willkommener Kontrapunkt zur Griechenlandkrise und der Flüchtlingsdebatte zu sein, was den Deutschen wohl langsam langweilig zu werden scheint.

Zur Anschaffung eines DeLorean hat es leider (noch) nicht gereicht, aber wer weiß? In naher Zukunft soll sogar eine rein elektrisch angetriebene Variante des Kultmobils herauskommen. Vielleicht treffe ich heute zufällig Marty McFly und überrede ihn, mir seinen Wagen zu überlassen. Hoffentlich ist mir dann Martin Winterkorn nicht zuvorgekommen, denn er würde sicherlich einiges dafür geben, den DMC-12 mit Fluxkompensator zu bekommen — Abgaswerte hin, Abgaswerte her. Damit könnte er den Skandal ungeschehen machen — und wohl auch echte Neuerungen in puncto Umweltverträglichkeit, die jetzt hoffentlich in der Fahrzeugtechnik anstehen. Bleibt abzuwarten, mit was und in welche Zukunft wir fahren werden. Bis dahin sehe ich mir die „Zurück in die Zukunft“-Triologie an, ganz abgasfrei und ohne Aufregung.

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