Hasskommentare auf Social Media sind nicht neu, aber Gewalt gegen Politiker*innen auf der Straße gab es so in den letzten Jahren noch nicht. Haben wir eine neue Eskalationsstufe in Deutschland erreicht?
Die Gewalt zeigt, dass es Zeit zum Handeln ist, dass man nicht hinnehmen kann, wie das Klima zum Teil verroht. Ich rede hier nicht nur von bestimmten Hasskommentaren, die sind eher die Spitze des Eisbergs. Wir haben ein politisches Klima, in dem Populist*innen, auch Extremist*innen sehr viel Sichtbarkeit bekommen, weil ihre emotionalisierenden und aufwühlenden Aussagen mit den Logiken von Social Media gut zusammenpassen. Einige Medien erzeugen ebenfalls mit Hilfe dieser Logiken Reichweite. Ich glaube, vieles in Deutschland ist noch gut. Es ist eine funktionierende Demokratie. Aber es gibt Momente, die zeigen, dass der Zusammenhalt fehlt und dass Einzelne sehr viel Wut entwickelt haben, auch angetrieben durch populistische Rhetorik.
Haben wir aus Ihrer Sicht konstruktives Streiten verlernt?
Ja. Ich glaube nicht, dass es jemals eine perfekte Welt gab, in der alle immer konstruktiv streiten konnten. Aber wir leben in einer medialisierten Welt, in der speziell politisches Spitzenpersonal merkt, dass sie mehr Reichweite erlangen, wenn sie populistische Rhetorik verwenden. Das hat bereits 2015 eine kommunikationswissenschaftliche Studie von Sina Blassnig und Kolleg*innen der Universität Zürich festgestellt. Es gibt derzeit in der Politik eine Tendenz, auf schnelle, emotionalisierende Themen zu setzen, die wiederum Polarisierung und populistische „Wir gegen die“- Rhetoriken befeuern. Was wir brauchen, sind also politische Eliten, die dieser populistischen Versuchung nicht sofort nachgeben. Zusätzlich sind Diskussionsräume wichtig, die bewusst anders ausgerichtet sind und wo nicht zwei unversöhnliche Lager gegenüberstellen. Zum Beispiel haben wir in Gemeinden häufig noch Diskussionsräume, in denen man durchaus anderer Meinung sein darf, aber gleichzeitig die Diskussionskultur gewahrt wird. Ein Mindestmaß ist zum Beispiel eine beleidigungsfreie Zone.
Inwiefern verstärken Soziale Medien die aufgeheizte Stimmung und wie kann man dem entgegenwirken?
Social Media ist ein Zerrspiegel der Realität und wir sehen, dass eine Minderheit einen Großteil der Debatte beeinflusst. Das große Problem ist, dass wir in unserer digitalen Welt eher die Lauten sehen. So steigt die Chance, dass ich den Eindruck bekomme: „Die Menschen da draußen sind furchtbar.” Dieses verzerrte Bild kann dazu führen, dass man umso schlechter miteinander ins Gespräch kommt. Ein Teil der Antwort kann sein, dass man tatsächlich weniger Social Media nutzt und sich selbst etwas aus dieser ständigen Aufregung herausnimmt. Ein anderer Punkt ist, zu überlegen, ob Social-Media-Plattformen anders designt werden könnten. Zum Beispiel, dass eine Überrepräsentation von negativ emotional moralisierenden Inhalten verhindert wird und wir Algorithmen dahingehend verändern. Ansätze, wie wir Online-Plattformen besser gestalten können, sucht zum Beispiel das Prosocial Design Network. Außerdem ist es zu einfach, rein über das Internet zu sprechen oder über Social Media. Ein Teil des Problems ist auch, dass diese Provokationen von etablierten Medien mitübertragen werden. Sicher nicht von allen gleich, aber dieses Spiel mit der Wut – das ist leider sehr rentabel.
Das Problem populistischer Rhetorik ist somit auch in der Mitte unserer Gesellschaft und in Teilen des Mediensystems angekommen. Was können wir gesellschaftlich gegen diese Debattenkultur tun?
Generell würde ich empfehlen, an rhetorischer Abrüstung zu arbeiten, weil Beleidigungen einen spaltenden Effekt haben können. Das heißt: Wenn wir wollen, dass sich das stärkere Argument durchsetzen kann, brauchen wir eine Abkühlung in der Sprache. Das meint nicht, dass man problematische Dinge nicht benennt, sondern dass man von beleidigenden Begriffen Abstand nimmt, weil ein allgemeines politisches Klima, in dem Beleidigungen an der Tagesordnung sind, jenen nutzt, deren Kernstil das ist. Wenn ich versuche, auch Leute zu erreichen, die für eine populistische oder demokratieskeptische Erzählung empfänglich sind, abgesehen von politischem Spitzenpersonal, kann ein Zugang sein, lagerübergreifende Empathie zu fördern. Das haben zum Beispiel Forschende der Universität Stanford getestet. In deren Studie wurde Probanden zu Beginn erklärt, wie wichtig lagerübergreifende Empathie ist, wenn man Menschen aus anderen Gruppen erreichen möchte. Diese Probanden wirkten danach tatsächlich empathischer in ihrer Argumentation und überzeugender für Andersdenkende. Selbst in einer Situation, in der ein Teil der Bevölkerung auf „Wir gegen die“-Denken anspringt, könnte es helfen, sich selbst an den Wert von Empathie zu erinnern. Wenn ich mir zum Beispiel überlege: Wieso sind manche Argumente vielleicht für jemanden attraktiv – und dann meine eigenen Argumente auch darauf ausrichte? Das heißt nicht, dass man seine eigene inhaltliche Position verändert, aber dass man Perspektiven anderer berücksichtigt. Zusätzlich kann es hilfreich sein, in der eigenen Argumentation Gemeinsamkeiten hervorzuheben.
Inwiefern können Medienhäuser etwas gegen die aufgeheizte Stimmung beitragen?
Der Kommunikationswissenschaftler Frank Esser von der Universität Zürich empfiehlt zum Beispiel, dass Medienhäuser ihre eigene Rolle in der Demokratie klären müssen. Das heißt, sind sie nur passive Überbringer der Nachrichten oder gibt es auch eine Situation, ab der sie die Demokratie schützen müssen? Zusätzlich ist es wichtig, dass es für alle politischen Richtungen einheitliche Standards gibt. Das bedeutet: Wenn Parteien zum Beispiel etwas Unsachgemäßes machen, dass diese gleichermaßen sanktioniert werden. Demokratieverletzungen offenzulegen, die populistische Parteien begehen und Fact Checking betreiben, ist ebenfalls bedeutend. Eine andere Empfehlung nach Esser ist, dass ein eigenes positives Gegenbild gezeichnet wird und dass Populist*innen nicht nur die Erzählungen überlassen werden. Auch das Reflektieren über die eigenen Normen sollte nicht vernachlässigt werden. Wichtig ist ebenso, populistische Medienstrategien zu erklären. Das sind ein paar Anregungen, die Medienhäuser zum Beispiel befolgen können. Aber auch als Konsument*in kann ich mir überlegen, welches Medium besonders gut darin ist, populistische Medienstrategien zu erklären oder wo Fact Checking passiert.
Haben Sie noch konkrete Tipps, wenn zum Beispiel in der Familie sachliche Fakten in einer Diskussion zunehmend ignoriert werden?
Zuerst ist es sinnvoll anzuerkennen, wenn Menschen Falschmeldungen glauben, dann kann das auch eine Art emotionaler Schutzmechanismus vor der Realität sein. Wenn man dann mit Fakten kontert, prallen diese oft ab, weil Falschmeldungen meist auf der emotionalen und nicht auf der inhaltlichen Ebene wirken. Meine Empfehlung ist daher, die Gefühle der Person ernst zu nehmen und genauer nachzufragen. Der zweiter Tipp: Eine Gesprächsebene suchen, bei der Leute ihr eigenes Denken inspizieren können und dabei gleichzeitig auch ohne Gesichtsverlust und ohne Bloßstellung ihre Meinung wieder ändern können. Das Problem ist, dass wir in vielen Gesprächen Recht haben wollen, aber dabei nehme ich mir selbst oft die Chance, dem Gegenüber die Rückkehr zum Boden der Gemeinsamkeiten zu lassen.
Im Herbst stehen in Deutschland drei Landtagswahlen an. Die AfD-Prognosen sind hoch. Es gibt Stimmen, die die heutige Zeit bezogen auf die politische und gesellschaftliche Lage in Teilen mit der Weimarer Republik vergleichen – Wie ernst ist die Lage besonders in Deutschland?
Für die AfD sind die Landtagswahlen ein großer Hoffnungsmoment, für den Großteil der deutschen Bevölkerung ist es das Gegenteil. Gerade solche zugespitzten Wahlkämpfe bergen die Gefahr, dass es besonders brutal wird. Damit meine ich, in so einer zugespitzten Situation können sich mehr Falschheiten verbreiten oder auch ein raueres Klima etablieren. Ich habe keine Glaskugel, wie die Wahl ausgehen oder der Wahlkampf ablaufen wird, aber es sind Momente wie diese, in denen wir vorsichtig sein müssen, was zum Beispiel die Fairness im Wahlkampf oder leider auch die Sicherheit von politisch Kandidierenden betrifft. Insgesamt stimme ich der These zu, dass wir uns tatsächlich in einer heiklen Phase befinden, in der es auch wichtig ist, für demokratische Werte einzustehen.
Der Titel Ihres neuen Buchs lautet „Wider die Verrohung – Über die gezielte Zerstörung von öffentlichen Debatten“. Welche Personengruppen schüren aus Ihrer Sicht gezielt und ist dieser Teil demokratiegefährdend?
Ein großes Problem ist natürlich der erstarkende Rechtspopulismus. Dieser zeichnet sich durch eine „Wir gegen die“- Rhetorik aus. Das ist demokratisch bedenklich, weil eine solche Denkweise einem pluralistischen Zugang widerspricht. Hinzu kommt, bei einigen Parteien stellt sich die Frage, inwieweit sie rechtspopulistisch oder inwieweit sie schon rechtsextremistisch sind. Das heißt, wir haben auch fehlende oder schleichende Übergänge von Rechtspopulismus zu Rechtsextremismus. Dann gibt es noch eine zweite Ebene. Das sind jene, die nicht dezidiert aus solchen Lagern stammen, die aber ein bisschen mitmischen, also populistische Behauptungen wiederholen, weil sie kurzfristig Beifall bekommen und das Reichweite bringen kann. Die zweite Ebene ist auch ein Mediensystem, wo es für Medien attraktiv sein kann, ebenfalls Populismus zu erzeugen, indem sie eigentlich die Rhetorik von populistischen Parteien selbst nachmachen. Wichtig ist: Das machen natürlich nicht alle Medien. Es lohnt sich, als Konsument*in hinzuschauen und sich zu fragen, welche Medien eigentlich von populistischer Rhetorik, also von populistischen Parteien, in ihrer Ausrichtung kaum zu unterscheiden sind.
Inwieweit tragen bestimmte Themen zur aufgeheizten Stimmung bei?
In vielen Punkten sind die deutschsprachigen Länder sehr friedlich. Das Problem ist eher, dass Polarisierung im deutschsprachigen Raum themenbezogen ist. Eines dieser Themen war zum Beispiel das Impfen in der Corona-Zeit. Ein anderes Thema ist Migration, das oft sehr unversöhnlich diskutiert wird. Die Gefahr ist dabei, dass einzelne Themen aufgeladen werden, auch über politische Parteien, die zum Teil das als emotionale Fragen für sich nutzen. Zum Beispiel beim Klima-Thema: Da wird die Ernsthaftigkeit der Klimakrise angezweifelt und der Eindruck erweckt, diejenigen, die sich für Klimaschutz einsetzen, wären Hysteriker*innen oder würden unvorteilhaften Zwecke zu Lasten der Bevölkerung verfolgen. So wird dann in einer „Wir gegen die“- Rhetorik das Gespräch über ein wichtiges Thema erschwert.
Worauf kann ich insgesamt als Medienkonsument*in noch achten?
Sehr viele dieser Dinge, über die wir geredet haben, funktionieren, weil zum Beispiel provokative Aussagen Wut auslösen. Wut führt auch dazu, dass sich Leute eher in ein stereotypes, oberflächliches Denken begeben. Also man versteift sich mehr auf die eigenen Überzeugungen. Ich denke, wir alle können lernen, dass es solche Mechanismen gibt. Zum Beispiel wenn ich etwas von einem Politiker oder einer Politikerin lese, das mich wütend macht. Dass ich mich dann auf meine eigene Einstellung versteife, ist eine sehr nachvollziehbare menschliche Reaktion. Aber wenn man in dem Moment einmal darüber nachdenkt, will ich das jetzt gerade? Will ich mich jetzt dazu hinreißen lassen, genau dieses Spiel mitzuspielen? In manchen Fällen wird man vielleicht zum Ergebnis kommen: Nein, ich steige jetzt nicht darauf ein. Das wird nicht immer möglich sein, aber diese Mechanismen zu verstehen, mit denen unsere Aufmerksamkeit auch gekapert wird und mit denen wir sehr schnell in einem Schwarz-Weiß-Denken landen, das ist der erste Schritt, um dann strategischer vorzugehen.