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Von Dinosauriern, Junkies und Lavasperma oder: Ich ficke alle, heute Bamberg

Von Dinosauriern, Junkies und Lavasperma oder: Ich ficke alle, heute Bamberg

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  • Nicht Ecstasy, sondern die Literatur ist es, die in Vladimir Sorokins Dostojevskij Trip Figuren und Leser*innen gleichermaßen in Ekstase verfallen lässt. Art East Bamberg hat nun diese Persiflage auf Fjodor Dostojevskijs Roman Der Idiot in einer modernen Theaterinszenierung urkomisch umgesetzt. Gelächter vorprogrammiert.

Kürzlich feierte Theaterstück Dostojevskij Trip der Gruppe von ArtEast Bamberg Premiere im CON. Dass es sich hierbei allerdings nicht um eine Hommage an den großen russischen Literaten handelt, impliziert bereits der Titel. Weniger seichte Theaterunterhaltung als ein krasser Drogentrip ist es, auf den Eugeniya Ershova und Christine Renker den Zuschauer in ihrer Inszenierung mitnehmen.

Dostojevskij Trip ist Vladimir Sorokins (*1955) satirische Antwort auf den Roman Der Idiot von Fjodor Dostojevski (1821–1881). Die Texte des in der Sowjetunion geborenen Autors und Dramatiker Sorokin sind bekannt für ihre politische Anfeindungen, Brüche mit jeglichen literarischen Normen, dystopischen Inhalte und provozierende Sprache. Auch in dem Stück Dostojevskij Trip bleibt er seinem Stil treu und projiziert seine Kritik auf Dostojevskijs Roman Der Idiot. Er entfremdet und verhöhnt dessen Charaktere und setzt sie in einen anderen Kontext – wirft sie in einen Drogensumpf. Dabei genügen Sorokin jedoch nicht gängige Rauschmittel wie MDMA und Heroin, konsumiert werden in seinem Theaterstück einzelne Literaten. Doch von vorne.

Gängige Rauschmittel reichen nicht aus: Konsumiert werden einzelne Literat*innen

Nervöses Gestikulieren, Tremor, kontextfrei eingeworfene Tiergeräusche und unkontrollierte Wutausbrüche mit enormer Lautstärke – der Auftakt des Stückes wird mit einer Hand voll Junkies gefeiert, jeder davon mit individuellen Entzugserscheinungen kämpfend. Ihr gemeinsamer Lichtblick: die Ankunft des Dealers. Die heiß ersehnte Droge: Dostojevskij. Alle waren sie schon von verschiedensten Autor*innen abhängig: Mann, Beauvoir, Kafka, Tolstoi – den „Shit“ gibt’s an jeder Ecke. Doch jetzt heißt es, etwas Neues auszuprobieren und zu entdecken. Welchen Trip wird ihnen der bekannte russische Autor bescheren?

Die sieben – ja, sie heißen Menschen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 – landen mitten im Roman „Der Idiot“ . Das nicht als stille Beobachter, sondern als handlungstragende Charaktere. Kurz zum Plot des Romans: Alles dreht sich um den epileptischen Fürst Lew Myschkin (Titelgeber), der zu gegebenem Zeitpunkt in St. Petersburg Nastassja Filippowna Baraschkowa kennenlernt, welche die Geliebte des Großgrundbesitzers Tozkij ist. Dieser wiederum will sie mit Gawrila Iwolgin verheiraten. Und dann gibt es noch Rogoschin, der für die holde Maid eine ganze Menge Rubel zu bieten hat. Genau in dieses Idiot-Szenario sendet Sorokin seine Figuren. Als Nummern, die erst beim Eintauchen in die Parallelwelt Namen und Gesichter bekommen. Die Drogensüchtigen werden nun also zu Romanfiguren und erleben in der jeweiligen Rolle ihren eigenen Trip. Und alle sind sie für eine Zeit lang auf der Jagd nach Liebe.

Die Drogensüchtigen werden zu Romanfiguren und erleben ihren eigenen Trip.

Weil der Dostojevskij-Trip jedoch nicht als abstrakter Alleingang, vielmehr aber als bewusstes Gruppen-Erlebnis geplant war, wird die Droge auf der Bühne in gemeinschaftlicher Runde konsumiert – was bedeutet, es wird aus dem Roman herausgezoomt, Vorlesen ist angesagt. Da allerdings jeder auf der Dostojevskij-Droge ist, läuft das nicht sonderlich rund. Nach und nach driften die Konsumenten (Mensch 1 bis 7) in den Wahn ab und steigern sich in die völlige Ekstase hinein – um zum Schluss in Form von Kindheitserinnerungen schonungslos auf den Boden der Realität zu knallen.

Auch der Zuschauer durchlebt in dem Stück manch unsanfte Landung. Schon der Spielort von Dostojevskij Trip passt zur überdrehten, teils düsteren Stimmung des Stücks. Der Zuschauer bahnt sich seinen Weg zum CON durch eine nah am Schlachthof liegende, dunkle Straße. In einem finsteren Hinterhof, mit Ausblick auf ein Backsteinhaus, wird er fündig. Der Saal selbst ist schlicht aufgebaut: Ein enger Raum, durch Spiegel an der Rückwand verziert, die ihm mehr Größe verleihen und die Atmosphäre verstärken. Das Publikum erwarten tiefe, technoide Klänge und so vermittelt die Aufmachung eher den Eindruck eines Bunker-Raves, als den einer Theateraufführung. Auf der Bühne bewegen sich die Darsteller*innen in frappierender Nähe zum Publikum zur Musik.

ArtEast vereint überhöhte visuelle, klangliche und schauspielerische Elemente

Es folgt ein wildes Potpourri aus verrückten Verkleidungen, vulgärsprachlichen Einlagen und kollektivem Geschrei, mal mehr, mal weniger. Gewohnter Dostojevskij-Wahnsinn in modernem Gewand. Monologe und Kontroversen bestimmen das Stück. Die Schauspieler*innen reiten in elektronisch gesteuerten T‑Rex-Kostümen ein, während im Hintergrund mittelalterliche Hofmusik läuft. Der Zuschauer wird hineingezogen in einen Strudel aus Klischees und Gegensätzen, in dem er sich erst einmal zurechtfinden muss. Doch vielleicht soll auch gerade dieses Zurechtfinden durch die gesamte Darstellung verhindert werden.

Gesamt lässt sich die Inszenierung von Christine Renker und Eugeniya Ershova nicht auf Sorokins Russlandkritik und ausgemachten Stalinhass im Original beschränken; vielmehr bedienen die beiden Regisseurinnen heutige (westlische) Einflüsse. Da darf nebst einer ganz eigenen Interpretation von Kelis‘ Charthit Milkshake die berühmte Merkel-Raute nicht fehlen. Konservative, alte Eliten und die damit einhergehende Erziehung werden scharf kritisiert; es wird mit früheren Tabuthemen wie Masturbation und Homosexualität abgerechnet. Sexismus und die gängigen Geschlechterrollen stehen im Mittelpunkt der Kritik. Eine Szene bleibt hier besonders im Gedächtnis: Mensch 1, in jungen Jahren, zu schwach, den geliebten Hund auf Befehl des Großvaters zu schlagen, wird später auf dessen „totem, lauwarmen“ Körper beschimpft. Darsteller Anas Attar glänzt hier als sensibler junger Mann, dessen „Verweichlichung“ niemand zu akzeptieren vermag; später werden ihm glänzender Lidschatten und Lippenstift auf sein Gesicht gepinselt.

Die zwei Regisseurinnen lassen gekonnt subtil Facetten der heutigen Zeit mit einfließen

Auch auf kapitalistisches Denken und Imperialismus zielt die Beurteilung ab, visualisiert durch verquere Charaktere wie etwa den des Mensch 3, der mit seinem Lavasperma die ganze Welt zu befruchten verspricht: „Ich ficke alle, morgen Irland“. Scheinbar angelehnt an den via YouTube viral gegangenen Züricher Pornosynchronsprecher, spricht Alexandra Kaganowska ihren Text dabei im schweizerdeutschen Dialekt. Und nicht nur in diesem Bespiel bestimmen sexuelle und obszöne Anspielungen und Gesten das Bild. Generell weist das Stück einen provokanten Sprachgebrauch auf.

Mensch 6 (gespielt von Kristina Kroll) schließlich fordert das In-Brand-Setzen sämtlicher Städte und verlangt nach Anarchie, hier lassen sich Parallelen zur „Ground Zero“-Szene im Film Fight Club erkennen.

Neben all diesen politischen und gesellschaftlichen Denkanstößen und Akzenten wird dem Zuschauenden übergreifend aber vor allem eines deutlich – dass man nicht nur während eines Drogentrips, einer Lektüre oder eines Theaterstückes, sondern auf die ganze Lebenswelt bezogen, auf seine individuelle Wahrnehmung beschränkt bleibt.

Schwere Kost mit herausragenden Darsteller*innen

Insgesamt sorgt das Stück auf einigen Ebenen für Verwirrung – das in der Summe etwas zu oft. Schade ist, dass die Schauspieler*innen den Menschen 1 bis 7 schwer zuzuordnen sind; auch wenn es zu der Darstellung des Stückes passt, so wünscht man sich doch, einzelne Rollen verorten zu können. Stellenweise stellt sich die Frage, ob es für das Verständnis des Stücks von Vorteil ist, selbst Konsument der Droge Dostojevskij zu sein.

Hervorzuheben ist die herausragende schauspielerische Leistung der einzelnen Darsteller*innen. Jede*r verkörpert eine oder mehrere Rollen auf eine ganz eigene, tragische bis komödiantische Weise und scheut dabei weder Schweiß noch Tränen. Mit vollem Körpereinsatz und vielen wechselnden Outfits präsentieren sich die Menschen 1, 2, 3, 4, 5, 6 und 7 dem Publikum.

Von Dostojevskij-Kennern abgesehen kommt jeder, der sich ein Theater fernab von gängigen Unterhaltungsstücken in Bamberg und Umgebung wünscht, beim Stück des ArtEast Theaters voll auf seine Kosten. Selbst diejenigen, die nur der Bespaßung wegen gekommen sind, bleiben nicht enttäuscht zurück. Denn Lacher sind durch Lavasperma, ausgefallene Kopfbedeckungen, T‑Rex-Kostüme und Baywatch anmutenden Badeanzügen auf jeden Fall garantiert.

Für alle Interessierten: im April führt ArtEast Dostojevskij Trip im Rahmen des Ost Anders Festivals in Nürnberg ein weiteres Mal auf.

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