
Timotheus Riedel widmet sich primär der Germanistik, der Philosophie, der…
öffne deine jacke für mich. damit ich zwischen dich und den stoff passe.“ – So kann nur eine erste unter 92 lyrischen Seiten grüßen; und ihre Bitte mag sich an den Leser wenden, an das Buch, an einen Nahen oder an die Welt. In diesem Viergestirn bewegt sich Rieke Siemon, die Erfahrung aufzeichnet, mit Menschen umgeht und mit der Gegenwart – die „Entdeckerin all der Geschichten“ sein will, wie der Autorentext verkündet. Mit nur 19 Jahren hat die Studentin aus dem niedersächsischen Diepholz ihren Erstling publiziert: „Für dich war ich Mohn“.
zwischen den wimpern
nach nimmerland
getragen von flügeln ohne stiefel
als goldmarie im schokoladenbett
die erbse aus zucker längst gegessen.
mit schlaf verklebte augen
sieben meilen weit geschubst
statt hakenhand nur lange nase
brotkrumen ohne lebkuchen
durch den traumfänger
ins hasenloch.
Die Gedichte, die darin gesammelt sind, sind persönlich, erlebend und beobachtend. Als solche kommen sie fast immer ohne finites Verb aus, sind statisch, greifen Aspekte und brechen Eindrücke: „luftballons/ vom dach getrunken/ im ständigen filter/ der abendsonne/ tagelang“. Oft tänzeln sie noch auf der Schwelle der Kindheit, immer auf der Schwelle zwischen Menschen, und gucken von dort in beide Richtungen. Obschon ihnen eine unbeschwerte Nonchalance eigen ist, sind sich dabei die Liebeserklärungen unter den Texten in ihrer Machart doch ähnlich; und rasch begegnet der Leser Vertrautem (da wird viel von Luftballons geredet; von Konfetti, Papierzetteln und Körpern, und sehr viel vom Du).
60–90-60
übelkeit im spiegel
später nur rücken
und zurückgehaltene haare
grummeln im hörsaal
röhren im supermarkt
später im spiegel
nur schwarz
Erfrischt wird er aber bald von denjenigen Blättern, die politisch sind oder gemein, die eine unerwartete Wendung nehmen und Wichtiges sehen. Wenn sie den Schönheitswahn thematisieren oder die Absurditäten der digitalen Welt, dann verlassen sie trotzdem nicht den Modus der Beschreibung: „neben gespitzten lippen/ fehlen zeichen und bewundern/ fremde auf dem profilbild/ dank instabiler grammfilter“.
Und wenn die Autorin in der Dosierung von Zuckerwattewörtern mitunter noch eine juvenile Sorglosigkeit an den Tag legt, dann brechen manche Sätze umso kräftiger aus dem Papier: „und neben mir/ meißelt der juni durchs fenster/ deine wimpern/ auf meine brust“. Ihre Sprache, von syntaktischer Nacktheit und lapidarer Geradlinigkeit, funktioniert in der Lyrik besser als in den eingeschobenen Prosastücken, die einer unbeweglichen Zeitlosigkeit nie ganz entkommen, immer Impression bleiben.
Rieke Siemons Verse indes sind bunt schillernde Glassplitter von hier und von da, manchmal geschliffen, manchmal noch scharf; daraus bezieht sich ihr Charme. Durch und durch echt, kommen sie ohne Kunst im bösesten Wortsinne aus. Darin liegt ihre Kunst.
– Rieke Siemon: Für dich war ich Mohn. Geest-Verlag 2015, 11,00 € –


Timotheus Riedel widmet sich primär der Germanistik, der Philosophie, der Geschichte – und dem Ottfried. Mag Reportagen, Feuilleton und Glossen. Der selbsternannte Literat spielt Gitarre seit Erfindung der Gitarre und hält sich für wesentlich lustiger, als er ist. Hat eine Schwäche für struppige Tierbabys und Philipp Lahm (was vielleicht in Zusammenhang steht).