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Rezension: Lukas Bärfuss — Koala
Dunkel Hell

Rezension: Lukas Bärfuss — Koala

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  • In seinem zweiten Roman Koala nimmt sich Lukas Bärfuss, Inhaber der Bamberger Poetikprofessur im Sommersemester 2015, eines gesellschaftlichen Tabuthemas an: dem Selbstmord. Genauer gesagt, dem Selbstmord seines eigenen Bruders.

Die aus dem Deutschunterricht bekannte Regel „Autor ≠ Erzähler“ gilt zurecht für fast jeden literarischen Text. In Lukas Bärfuss’ preisgekröntem Roman jedoch, ist diese Grenze fließend, wenn nicht sogar aufgehoben. Denn am Exempel des Suizides seines eigenen Bruders beschäftigt er sich als Ich-Erzähler mit dem Selbstmord und besonders den Fragen, Empfindungen und dem Zustand der Hinterbliebenen. Sujets, welche nur selten im öffentlichen Diskurs wahrzunehmen sind.

Zu Beginn der Handlung kommt der Erzähler nach Thun, um einen Vortrag über das Leben und das Werk Heinrichs von Kleist zu halten. Die Rückkehr in seine Geburtsstadt nutzt er als Gelegenheit, seinen Bruder nach langer Zeit einmal wieder zu treffen. Dieser war ihm schon immer recht fremd, weshalb sich auch nie ein inniges Verhältnis zwischen den beiden zu entwickeln vermochte. Beide treffen sich zum gemeinsamen Abendessen, während dessen das unterkühlte Verhältnis der beiden Brüder weiter illustriert wird. Dies Treffen ist die letzte Begegnung des Erzählers mit dem Bruder, der sich schließlich kurz vor Weihnachten in seiner Badewanne durch die Injektion einer Heroin-Überdosis umbringt. Die minutiöse Planung und Durchführung des Suizides, die sich z.B. in den Tatsachen reflektiert, dass der Bruder all seinen Besitz vorher testamentarisch unter seinen Bekanntschaften verteilt und den Selbstmord in der Badewanne durchführt, um den Tatortreinigern möglichst wenig Umstände zu bereiten, erzeugt abermals einen Bezug zu Kleist, den wohl berühmtesten Selbstmörder der deutschen Literaturgeschichte. Die von ihm hinterlassene Äußerung, dass „ihm auf Erden nicht zu helfen war“, lässt sich auch auf den verstorbenen Bruder übertragen. Trotz des distanzierten Verhältnisses findet sich der Erzähler überwältigt, zurückgelassen mit den Fragen, die sich ein jeder Hinterbliebene in solch einer Situation stellt: Wieso hat er das getan? Wer hat die Schuld an der Tat? Habe ich vielleicht die Schuld am Tod? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, beginnt er sich mit anderen Betroffenen zu unterhalten und zieht bekannte Suizide aus den Bereichen der Kunst, der Literatur und der Geschichte zum Vergleich heran, beispielsweise Cato, Sokrates und Seneca. Bei Recherchen findet er heraus, dass seinem Bruder beim Initiationsritus in dessen Pfadfindergruppe der Name ‚Koala‘ gegeben wurde, wodurch er seine „wahre Bestimmung“ finden sollte. Der Erzähler stellt sich die Frage, ob seinem Bruder mit der Namensgebung nicht vielleicht der Weg zum Selbstmord geebnet oder ob er nicht unbewusst gewählt wurde und er nur zufällig retrospektiv seinen Bruder und dessen Lebensvollzug passend beschreibt.

Doch nicht nur die Art des Todes des Bruders erinnert an den bereits thematisierten Kleist, auch der Ton und die Sprache des Buches weisen bis zu diesem Punkt Parallelen zum preußischen Literaturrevolutionär auf. Bärfuss schreibt eine prägnante, aber dennoch kunstvolle Prosa, die stellenweise an Ernest Hemingway erinnert, indem ein furchtbarer und tiefgreifend emotionaler Sachverhalt mit oftmals brutal-eindringlicher Nüchternheit und Distanz formuliert wird. Dadurch wird beim Leser einerseits ein Gefühl von Kälte und Reserviertheit hervorgerufen; andererseits steigert sich auch die Betroffenheit auf eine merkwürdige Art und Weise. Diesen Zwiespalt verstärkt die Erzählinstanz noch weiter, indem sie die Rolle der Sprache und die eigene Rolle als Erzähler relativiert und in Frage stellt:

„Der Selbstmord sprach für sich, er brauchte keine Stimme und er brauchte keinen Erzähler.“

Gleich darauf begibt sich der Erzähler auf einen über 100 Seiten andauernden Exkurs, auf dem die zivilisatorische Historie des Koalas dargestellt wird: von der Vertreibung der Tiere ins australische Hinterland durch die Ureinwohner des Landes bis zur Ankunft der Briten, die Australien besiedelten, um dort eine Strafkolonie für Verurteilte und Verbrecher einzurichten, wobei der Koala nur knapp seiner Ausrottung entging. Hier wechselt die Erzählperspektive vom Ich- zum Er-Erzähler und auch die verwendete Sprache wandelt sich zu einer leichtfüßigeren als noch im vorherigen Abschnitt. Hierdurch entsteht zunächst der Eindruck, dass der Erzähler durch den Exkurs eine Ablenkung zur Auseinandersetzung mit dem Suizid zu finden scheint. Diese Impression täuscht jedoch, denn der ungewöhnliche Schnitt entpuppt sich bei genauerer und fortschreitender Lektüre als der größte Kunstgriff des Romans: Durch das Darstellen der Geschichte des Koalas erzeugt Bärfuss eine Analogie zwischen dem Schicksal des Tieres und dem seines Bruders. Beide weisen vergleichbare Charakteristika auf. Der wehrlose, unbeholfen und phlegmatisch agierende Koala, der seinen Lebensraum statisch in Baumkronen hat und sich nur körperlicher Anstrengung aussetzt, um Nahrung zu finden, erinnert an das Bild, das vom Bruder gezeichnet wird, der ebenso ehrgeiz- und antriebslos in Sweatpants auf dem Sofa sitzt, Joints raucht und am Existenzminimum lebt. Beide fallen einer erbarmungslosen Umwelt zum Opfer. Daneben trägt die Exkurs-Episode noch einen weiteren Sinn. Bärfuss offeriert damit auf eine enorm kreative und abstrahierende Art und Weise eine mögliche Erklärung für den Selbstmord, die nicht nur auf seinen Bruder, sondern auf alle zutreffen könnte. Er sieht das Nichtstun in der kapitalistisch-expandierenden Leistungsgesellschaft, die „Leistungsverweigerung“ als Äquivalent und auch als Auslöser für die Selbsttötung an. Der Selbstmord seines Bruders ist für ihn also der konsequenteste Ausdruck seiner Leistungsverweigerung.

Der Grund dafür, dass der Suizid als ein soziales Tabuthema gilt, besteht wohl darin, dass man versucht, den damit einhergehenden Gefühlen und Gedankengängen fernzubleiben. Laut Bärfuss geschieht dies jedoch nicht, weil die meisten Menschen die Tat nicht nachvollziehen können, sondern eben weil sie ein jeder — zumindest ab und an — nachvollziehen kann, was die Gefahr des Themas ausmacht. Bärfuss will mit diesem düsteren Gedankengut seine Leser zum Reflektieren anregen. Als Aufsehen erregenden Einstieg in das öffentliche Diskursbewusstsein stellt er die Frage:

„Warum seid ihr noch am Leben?
Warum nehmt ihr jetzt nicht gleich den Strick,
das Gift, den Revolver?
Warum öffnet ihr nicht das Fenster, jetzt gleich?“

Fazit:
Lukas Bärfuss’ „Koala“ ist kein einfacher Roman. Aufgrund des sprachlichen Anspruchs, des langen erzählerischen Umwegs und des hohen Abstraktionsgrades könnten manche Leser den Überblick verlieren und nur schwer wieder in die epische Sphäre zurück finden. Koala ist auch kein gefälliger Roman. Er behandelt ein emotional schwer begreifbares Thema, das von den meisten Menschen im öffentlichen Leben häufig verdrängt wird. Bärfuss versucht durch die entwaffnend persönliche Darstellung seines eigenen Seelenlebens den Leser darauf aufmerksam zu machen, dass auch komplexe und belastende Themen ihren Platz im gesellschaftlichen Diskurs haben müssen und mit seinem Buch könnte ihm dieses Unterfangen gelingen. Gute Literatur soll nicht nur unterhalten, sie zielt auch darauf ab, Gesellschaften zu verändern. „Koala“ ist solch ein Stück guter Literatur, ein besonders bewegendes dazu. Daher ist Richard Kämmerlings nur beizupflichten, wenn dieser postuliert: „Lukas Bärfuss ist der aufregendste Autor der Schweiz.“

Lukas Bärfuss
Koala. Roman
Wallenstein Verlag, Göttingen 2014
Umfang: 184 Seiten
Preis: ca. 20 Euro

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