– Gedanken über das Reisen –
Der Sommer ist langsam am Ausklingen mit seinen Mückenstichen und Sonnenbränden, wie hatten wir uns nach ihm gesehnt und nach dem, was man früher Urlaubssaison nannte. All die Urlaubsfantasien, zu denen sich die Gedanken im kahlen Winter flüchteten. Nun kratzt man sich den Kopf und fragt bedröppelt, wie wohl ein Urlaub in Deutschland aussehen könnte?
Der Luxus des Reisens war für lange Zeit zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Die Grenzen waren offen für deutsche Reisepässe, die Flüge günstig und die Länder zahlreich, die von Löffellisten gestrichen wurden. Das nun etwas bröckelnde Selbstverständnis könnte guten Anlass dazu bieten, dieses Reisefieber einmal etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, und die Sehnsucht nach der Ferne, dem Exotischen. Denn manchmal beschleicht mich die Vermutung, bei allen Postkartenmotiven, der Reiz liege eher in einer Idee, in dem Begriff des Reisens also und weniger in seiner sinnlichen Wahrnehmung.
Der Mensch hat das Verlangen, die Welt zu erkunden und seiner Neugier nachzugehen auf die höchsten Berge oder die tiefsten Winkel des Internets, das Dunkel, das hinter den Grenzen seines Wissens und der Grenze seines gewohnten Umfelds lauert, zieht ihn an mit einer gewissen Faszination. So sehnt er sich nach dem Außergewöhnlichen und schwärmt für das Besondere, das Teure und Berühmte, dem Gewohnten zieht er das Seltene vor, das Andere dem Eigenen und das Ferne dem Nahen. Einem Spaziergang durch Père Lachaise in Paris misst er also mehr Bedeutung zu als einem Spaziergang durch den Bamberger Hain.
Letztendlich ist es dem Universum egal, wie viele Länder du von deiner Rubbel-Weltkarte weggerubbelt hast oder wie viele Magnete deinen Kühlschrank zieren.
Das Reisen wirbt mit einem breiten Sortiment an extravaganten Bildern und Versprechen – und da es ein Imperativ meiner Generation ist, das Leben bis an seine Grenzen auszuschöpfen, verwundert der Hype um die Reiselust höchstens noch Eremiten wie mich. Das Reisen ist Teil eines Lebensgefühls, eines Lebenszwecks geworden, welches das Leben nach der Quantität seiner Erlebnisse bemisst, seiner Außergewöhnlichkeit. Es gleicht einer Orientierung an das horazische Carpe Diem: mit dem Tod an den Fersen, hektisch nach Erfahrungen zu jagen.
„To live is the rarest thing in the world. Most people exist, that is all”, ist ein berühmtes Zitat von Oscar Wilde und schmückte schon viele Kalenderseiten.
Wenn man das Leben nun in Abgrenzung zum Existieren definieren möchte, so muss der Unterschied jedoch nicht gleich bedeuten, so viel wie möglich auf einmal zu leben oder am außergewöhnlichsten. Selbst eine Radtour durch Irland oder das Surfen an kolumbianischen Küsten kann leer bleiben, wenn es bloß stumpf von einer Liste abgearbeitet wird; wenn man auf der Suche nach dem Glück bloß fremden Wertekriterien folgt. Letztendlich ist es dem Universum egal, wie viele Länder du von deiner Rubbel-Weltkarte weggerubbelt hast oder wie viele Magnete deinen Kühlschrank zieren. Denn wer bewertet schon, was das eigene Leben erfüllt, außer du selbst?
Das Glück ist nicht nur für das lauteste oder wildeste, kräftigste Leben reserviert, sondern kann sich in den kleinsten und gewöhnlichsten Dingen verstecken.
Das, was das Leben wirklich vom Existieren abhebt, ist das bewusste Leben.
Der Alltag wird zumeist vom unbewussten, assoziativen Denken eingenommen; um genau zu sein, ist es das Unbewusste, was den Alltag erst ermöglicht. Mit seiner Schnelligkeit wird es zur Bedingung von den einfachsten Prozessen – wie lange zum Beispiel würden wir zum Zähneputzen brauchen, gäbe es dieses System in unserem Gehirn nicht, wie schwer würde es uns fallen, mit Messer und Gabel zu essen? In Windeseile und ohne viel Aufwand verknüpft das Unbewusste und bewertet, stellt Kausalität her und verbindet Ereignisse zu Erzählungen. Nur kann man irgendwann leicht genervt sein, wenn es immer wieder die gleiche Erzählung ist und dieselben Wertungen, die das Leben in die immer gleichen Farben tauchen. Die Automatisierung der Tage kann leicht in einen Überdruss abrutschen.
Immer wieder braucht es also das bewusste Erleben zwischendurch. Dabei muss ein bewusstes Leben nicht unbedingt ein spannendes oder aufregendes sein. Das Glück ist nicht nur für das lauteste oder wildeste, kräftigste Leben reserviert, sondern kann sich in den kleinsten und gewöhnlichsten Dingen verstecken. Ein sonniger Nachmittag mit einem Buch oder ein Telefonat mit alten Schulfreund*innen. Ein bewusstes Leben jagt nicht nach Trophäen, sondern schöpft seine Intensität aus dem Moment und aus dem Spaß an der Sache, es kümmert sich nicht zu sehr um die äußeren Umstände und hierarchisiert keine Erfahrungen. Intensiv müsste sich demnach genauso gut in der Karibik wie zuhause leben lassen, im Urlaub genauso wie im Alltag. Trotzdem werden die meisten auf Reisen eine weitaus intensivere und bewusstere Zeit erlebt haben als im Alltag. Liegt der Reiz der Ferne also darin, dass sie uns wieder zu Bewusstsein bringt – wie muss man sich das vorstellen?
Das Reisen kann die Welt vom Filter des Gleichmuts befreien, ein frischer Ort, der noch frei ist von Urteilen und Bewertungen lädt ein, das Leben neu zu entdecken.
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“: Anfänge haben tatsächlich ihren Zauber um sich herum. Man stelle sich den ersten Abend in einer noch unbekannten Stadt vor, wenn man die Straßen durchstreift und die Wege erkundet, dann bemerkt man die grazilen Hausfassaden und die herrschaftlichen Straßenlaternen, vielleicht verliebt man sich in das Glitzern der Lichter im schwarzen Wasser und stützt seine Ellbogen verträumt auf das Brückengeländer, und wenn man bemerkt, wie kitschig das doch alles ist, sieht man nachsichtig darüber weg.
Meine Heimatstadt läuft derweil kaum Gefahr, zu Kitsch zu werden, der Zauber scheint eine Eigenschaft des Neuen zu sein. Er scheint nur jene Dinge zu behausen, welche man zum ersten Mal erblickt oder zum ersten Mal erlebt. Man könnte es in einer blumigen Sprache ausdrücken und sagen, er besitzt ein sprunghaftes Gemüt und liebäugelt mit der Vergänglichkeit.
Das Wunder ist per Definition also nur das, was das Gewohnte übersteigt. – Soll es uns demnach unmöglich sein, auch Wunder im Alltag zu erleben?
Wenn wir ehrlich sind, sind wir dem Leben undankbar, dem alltäglichen Leben. Es hat uns zur Genüge seine Tage vor die Füße geworfen, Montag, Dienstag, Mittwoch und so weiter. Dann gleichen sich die Wochen irgendwann, dass man sich ganz ausgebraucht meint und verlebt und ganz so als könne einen nichts mehr überraschen. Es kommen solche Momente im Leben, in denen es tief im Inneren schrill nach Veränderung schreit. Ich habe immer den letzten Satz jenes Rilke-Sonetts im Kopf, die dämmernde Erkenntnis: „Du musst dein Leben ändern“, welche schwer und mächtig daherkommt.
Eine Reise, wenn auch nur für ein oder zwei Wochen könnte zumindest eine Abwechslung bedeuten, aber kann sie auch Veränderung bewirken? Ein paar bunte Tage, kann man in der Sehnsucht denken, sind in der Lage, viele graue Wochen wieder gut zu machen; in der Lage, Abhilfe zu schaffen mit dem Überdruss und wieder Kraft zu geben, für viele weitere grau gestrichene Wochen, die noch kommen werden.
Es sollte nicht nur darum gehen, neue Dinge zu sehen, sondern auch darum, die Dinge auf eine neue Art und Weise zu betrachten.
So wird das Reisen also zu einer Flucht vor einem Leben, das einen ermüdet und ausgelaugt hat, dann soll ein Urlaub schiere Ablenkung sein und Vergessen. Dann zehrt es eine*n nach dieser einen Pause, die betäubt und beruhigt und das Burnout-Syndrom verlangsamt, doch letztlich nicht mehr als Symptome lindert. Jedoch kommt es vor, dass eine Reise nicht das hält, was sie verspricht: Oft geht es an einem neuen Ort bald genauso weiter, wie am alten. Denn egal wie viele Kilometer man hinter sich lässt und egal wie viele Stunden Bahn und Flug und wackeligen Kleinbus, sein Selbst – diese Kleinigkeit, die man vergessen hat – kann man nicht so leicht daheim zurücklassen. Eine Perspektive ist nicht so leicht loszuwerden, denn jegliche Wahrnehmung bleibt eine Zweierbeziehung zwischen der Welt und mir selbst. Der Filter vor meinen Augen wechselt nicht automatisch, wenn ich meine Umgebung wechsle.
Ich will nicht leugnen, dass eine Reise durchaus dazu beitragen kann, seine Perspektive zu verschieben. Es ist vielleicht ein bisschen so wie in Der Club der toten Dichter, wenn Robin Williams auf seinem Lehrerpult steht und entzückt bemerkt, von da oben sehe die Welt tatsächlich anders aus.
Auch zeigt einem eine andere Perspektive erstmal die eigene auf: Oft muss man erst eine Fremdheitserfahrung machen, um sich selbst besser kennenzulernen, das Andere sehen, um sich dem Eigenen bewusst zu werden. Das Reisen kann die Welt vom Filter des Gleichmuts befreien, ein frischer Ort, der noch frei ist von Urteilen und Bewertungen lädt ein, das Leben neu zu entdecken. Allerdings sollte es nicht nur darum gehen, neue Dinge zu sehen, sondern auch darum, die Dinge auf eine neue Art und Weise zu betrachten. Auch wenn Achtsamkeit fast zu einem Modewort verkommen ist, das Konzept ist doch ein altes: alle Vorstellungen und Ideen zurückzuschrauben und der Welt unvoreingenommen entgegenzublicken; sich selbst kurz vergessen und seine Perspektive, um die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Vielleicht, dass man sich durch dieses bewusste Wahrnehmen des gegenwärtigen Moments wieder für die alltäglichen Dinge begeistern könnte.
Manchmal spaziere ich durch Bamberg und tue so, als wäre ich Touristin und sähe die Stadt zum ersten Mal, manchmal nehme ich einen anderen Nachhauseweg oder suche nach einer Gasse, die ich noch nicht kenne. Vielleicht könnte ich auch mal bei einer Stadtführung mitmachen, das wäre sicherlich ganz witzig.
Die Flucht gelingt nicht immer, denn die Ferne allein löst keine Probleme. Eine Reise bietet mit seinen neuen und außergewöhnlichen Erlebnissen zwar kurz den Weg ins bewusste Erleben, wer sich allerdings nicht für den Alltag begeistern kann, muss ständig auf der Flucht sein. Oder ist in der Sehnsucht gefangen nach dem Anderen, immer unzufrieden mit dem Eigenen. Eine neue Stadt kann eine neue Chance sein, selbstverständlich, eine Reise kann einem viel geben, aber letzten Endes verbleibt es in der eigenen Verantwortung, an sich selbst zu arbeiten.