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Pandemie auf Norwegisch
Dunkel Hell

Pandemie auf Norwegisch

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  • In Deutschland wurde ein zweiter „Lockdown light“ ausgerufen. In Bergen, Norwegen, sind seit dem 29. Oktober Masken Pflicht, wenn es nicht möglich ist, einen Meter Abstand zu halten: Neben den üblichen kulturellen Unterschieden lerne ich in meinem Auslandssemester auch die Unterschiede in der Pandemiebekämpfung kennen. Ein Erfahrungsbericht über ein ungewöhnliches Auslandssemester in Norwegen.

Alle anderen Universitäten in Norwegen haben das Austauschsemester schon abgesagt, schreibt mir das Akademische Auslandsamt der Uni Bamberg Ende Mai. Wir gehen davon aus, dass die Universität Bergen auch absagen wird, haben aber noch keine endgültige Entscheidung bekommen, so lautete zusammengefasst die E‑Mail, die ich bekam. Ich stellte mich also darauf ein, dieses Jahr nirgendwo mehr hinzufahren, und überlegte schon hin und her, ob ich mein Auslandssemester wohl irgendwie nachholen könnte.

Nach der ersten pessimistischen Mail kam eine Woche später überraschenderweise doch eine Zusage. Ab wann genau ich einreisen könnte, blieb aber unsicher. Riesige Erleichterung, Freude, Nervosität. Ab dann überprüfte ich alle paar Tage, wie sich die Einreisebedingungen veränderten. Lange Zeit ließ Norwegen fast niemanden ins Land. Ende Juli entwickelten sie stattdessen ein Ampelsystem.

Norwegen unterteilt die Welt momentan in grüne, gelbe und rote Länder. Wer aus einem roten Land einreist, muss für zehn Tage in Quarantäne. Wenn auch deren Bedingungen nicht allzu strikt sind — man durfte weiterhin rausgehen, nur nicht unter Menschen — wollte ich sie natürlich vermeiden. Deutschland blieb grün bis zu meiner Einreise, genauso wie die Niederlande, von der aus mein Flug Anfang August startete. Glück gehabt. Aber wie lerne ich Leute kennen, wenn keine Erasmus-Partys stattfinden? Wie finde ich Freund*innen, wenn wir alle ständig Abstand halten müssen?

In Norwegen gelandet schien es, als ob die Pandemie hier nie angekommen wäre. Über eine WhatsApp-Gruppe, die aus einem Facebookforum für Austauschstudierende entstand, hatte ich schon vorher Kontakt zu ein paar Studierenden, die mit mir im selben Flugzeug saßen. Wir hatten alle einen Wohnheimsplatz bekommen und machten uns zusammen auf den Weg dorthin. In der „bybanen“, der Straßenbahn, waren wir die einzigen mit Maske. Und ich muss zugeben, meine Disziplin beim Maskentragen hat im Laufe der drei Monate nachgelassen. Als es den ersten größeren lokalen Ausbruch in Bergen gab, wurden Masken im ÖPNV nur empfohlen, aber nicht verpflichtend vorgeschrieben. Neben mir saßen meist höchstens zwei andere mit Mundschutz im Bus. Im Supermarkt habe ich während der ersten zweieinhalb Monate hier noch niemanden mit Maske gesehen. Auch jetzt ändert sich das nur langsam, da die Maskenpflicht nicht generell für bestimmte Bereiche gilt, sondern nur für Situationen, in denen ein Meter Abstand nicht gewährleistet werden kann. Wann das der Fall ist, müssen die Norweger*innen selbst einschätzen.

Wie finde ich Freund*innen, wenn wir alle ständig Abstand halten müssen?

Zum Glück ist meine neugewonnene Lieblingstätigkeit hier in Norwegen relativ risikolos in Bezug auf Infektionskrankheiten: Wandern geht immer. An der frischen Luft ist man vor Übertragungen recht sicher, wenn auch manche Wege so beliebt sind, dass auf Schildern auf das Abstandsgebot hingewiesen wird. Die Wanderung zum Trolltunga ist trotz der sechs bis sieben Stunden, die man zu dem Felsvorsprung braucht, so beliebt, dass auf Schildern darauf hingewiesen wird, sich maximal zu fünft auf den Felsen zu stellen und sich die Hände zu desinfizieren. Desinfektionsmittelspender stehen bereit – auf 1000 Meter Höhe! Eine aus meiner Sicht etwas seltsame Prioritätensetzung. Aus den deutschen Medien bekomme ich mit, dass Aerosole sich endgültig als Infektionsgefahr herausstellen und lüften die Lösung sein soll. In Norwegen werden hingegen weiterhin vor allem fleißig Hände und Oberflächen desinfiziert.

Es fühlt sich ein wenig seltsam an, ein Land im Ausnahmezustand kennenzulernen.

Die Uni ist die ganze Zeit über geöffnet. Sie steht voll mit Desinfektionsmittelspendern und Papiertüchern, um die Tische zu reinigen. In den Vorlesungssälen und Aufenthaltsräumen klebt auf jedem zweiten Stuhl ein Schild mit der Aufschrift „Ikke i bruk“: Nicht benutzen. Aber sonst sieht in meinen Augen alles normal aus — wobei ich ja nicht weiß, wie es vor der Pandemie aussah. Es fühlt sich ein wenig seltsam an, ein Land im Ausnahmezustand kennenzulernen.

Das es mich so glücklich machen könnte, für eine Vorlesung tatsächlich in einem Vorlesungssaal zu sitzen, hätte ich vor dem ersten Lockdown nie gedacht. Aber da es mir zuhause oft schwerfällt, mich zu konzentrieren, war ich sehr erleichtert, in Bergen tatsächlich im Hörsaal sitzen zu dürfen. Allerdings war das nicht die ganzen drei Monate über möglich: Im September mussten, wegen eines größeren Corona-Ausbruchs an einer anderen Hochschule in der Stadt, die Vorlesungen für drei Wochen ins Internet verlegt werden.

Nach zwischenzeitlichen Lockerungen wurden die Regelungen in der letzten Oktoberwoche wieder verschärft. Die Vorlesungen werden trotzdem weiter auf dem Campus stattfinden. Noch scheint sich Norwegen das erlauben zu können, obwohl die Fälle ansteigen. Da mein Norwegisch noch nicht so gut ist, muss ich mich auf Informationen aus englischsprachigen Medien verlassen. Über das Infektionsgeschehen in Deutschland fühle ich mich besser informiert. Mir fällt es schwer einzuschätzen, wie gefährlich die Situation in Bergen gerade ist. Die Universität Bergen schickt uns bei jeder Regeländerung eine Mail, somit habe ich zumindest darüber einen Überblick. Es fühlt sich an, als wäre die Situation unter Kontrolle. Ich frage mich aber, ob Präsenzvorlesungen wirklich vertretbar sind, oder ob die norwegischen Behörden die Prioritäten einfach anders setzen. Trotzdem freue ich mich das sie stattfinden.

Normalerweise würde ich im Auslandssemester alles mitnehmen wollen: Jede Party, jeden Ausflug und jedes Treffen. Ich bin nur ein halbes Jahr hier, das muss genutzt werden. Doch gerade sind die meisten dieser Aktivitäten sowieso abgesagt und bei denen, die stattfinden, gibt es meist begrenzte Plätze. Und selbst bei denen, zu denen ich gehen kann, bleibt die Frage: Sollte ich? Trage ich damit zur Ausbreitung des Virus bei? Riskiere ich damit in Quarantäne zu müssen, falls sich später herausstellt, dass jemand mit Corona dabei war? Oder könnte ich mich infizieren? So habe ich mir mein Auslandssemester nicht vorgestellt. Vergleiche ich meine Situation jedoch mit der in Deutschland, bin ich sehr froh, gerade in Norwegen zu sein. Über die Hälfte meiner Zeit hier ist jetzt um und ich habe trotz Abstand Freundschaften geschlossen und Norwegens Natur und Kultur kennengelernt.

Die Deutschen sollen seit Anfang November jegliche Reisen vermeiden. Ist es richtig, in Zeiten der Pandemie ins Ausland zu gehen? Mein Aufenthalt ist kein Kurztrip und Norwegen kein Risikogebiet. Beim Studieren kann ich mich in Bamberg genauso anstecken wie in Bergen. Und in einer Zeit, in der in Europa plötzlich alle ihre Grenzen dicht machten, ist kultureller Austausch wichtig, um uns daran zu erinnern, warum wir die Grenzen geöffnet haben. Das ich diese Möglichkeit habe, ist nicht selbstverständlich und ich weiß, das Privileg Erasmus in diesen Zeiten besonders zu schätzen.

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