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Wann, wenn nicht wir?
Dunkel Hell

Wann, wenn nicht wir?

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  • Bunte Menschenmassen vor dem Brandenburger Tor. Polizist*innen, die Blockaden auflösen. Flaggen mit dem Symbol der ablaufenden Sanduhr in der Luft. Es sind diese Bilder aus Berlin, die Extinction Rebellion (XR) in Deutschland das erste Mal präsent gemacht haben. Wir stellen euch die Ortsgruppe vor, die sich vor ein paar Wochen in Bamberg gebildet hat.

Im Oktober hatten Rebell*innen versucht, mit Blockaden und Protestaktionen die Hauptstadt lahmzulegen, um auf die Dringlichkeit des Klimawandels aufmerksam zu machen. Ihre Aktionen mögen vielen radikal erscheinen — ihr eigentliches Ziel ist es aber, so viele Menschen wie möglich anzusprechen. Jede*r soll erreicht werden. Letztendlich würden 3,5 Prozent der Bevölkerung benötigt, um eine Systemveränderung zu erreichen, heißt es auf der Website.

XR hat drei Hauptziele: Die Regierung soll die existenzielle Bedrohung durch die Klimakrise anerkennen und den Klimanotstand ausrufen (1. Sagt die Wahrheit!). Dann soll die Regierung handeln, um die Treibhausgasemissionen bis 2025 auf Netto-Null zu senken (2. Handelt jetzt). Und drittens soll eine Bürger*innenversammlung einberufen werden, die Lösungsvorschläge erarbeiten soll (3. Politik neu leben). Auch zehn Prinzipien gibt es, wie Gewaltfreiheit oder Selbstbestimmung. Alle Ortsgruppen müssen sich innerhalb dieser drei Ziele und zehn Prinzipien bewegen, das ist der Rahmen, den XR vorgibt. Konkretere Vorschläge oder Maßnahmen zum Klimaschutz gibt es nicht. Nur Strukturen, in denen man arbeitet und Arbeitskreise, denen man sich anschließen kann.

Auch in Bamberg hat sich eine Ortsgruppe gebildet. Jeden Mittwoch treffen sich ca. 20–30 Rebell*innen in einem Plenum, besprechen die nächsten Aktionen und tauschen sich aus. Jede*r ist dabei eingeladen vorbeizuschauen, zuzuhören und mitzudiskutieren. XR ist dabei strikt basisdemokratisch, Hierarchien gibt es keine, alle Entscheidungen werden gemeinsam im Plenum gefällt.

Den Spirit spüren

„Erst, wenn man da ist und den Spirit spürt, weiß man, was Extinction Rebellion wirklich ausmacht“, sagt Katharina, die von Anfang an mit dabei ist. Der Generationswechsel sei bei der ganzen Klimafrage am wichtigsten, sagt sie. Unsere Eltern wären noch an der Stabilität orientiert gewesen, an der Wirtschaft. „Wir haben jetzt die Grundlage und können uns auch Gedanken über Ethik und Moral machen – das, was Klimagerechtigkeit eben ausmacht.“ Katharina will auch endlich mit dem Bild der „Esoterischen Sekte“, als die XR von vielen angesehen wird, aufräumen. Es gäbe eine Taktik, ein gemeinsames Ziel, aber jede*r kann immer Kritik üben, immer gehen. Sektenartig sei das nicht.

Die Bewegung arbeitet viel mit einem Apokalypsenbild. Die ablaufende Sanduhr, das Erkennungsmerkmal der Bewegung, sei jedoch nur auf wissenschaftliche Fakten gestützt. „Denn wenn man jetzt nicht handelt, ist die ökologische Krise unaufhaltsam“, erklärt Katharina. Es sind aber genau diese Symbole und Aktionen, die XR so radikal erscheinen lassen. Wie Die-ins — Flashmobs, die das Aussterben darstellen sollen, indem sich Rebell*innen wie tot auf die Straße legen – oder Straßenblockaden. XR setzt – anders als Fridays for Future bisher — auf zivilen Ungehorsam. Das sei störender als angemeldete Demonstrationen, fordere mehr Energie vom Staat.

Heute sind es 15 Leute beim Plenum — eine kleinere Runde. Man sitzt auf Sofas und Sesseln, isst Too-good-to-go-Brötchen und startet mit einer Befindlichkeitsrunde. Alle sagen nacheinander, wie es ihnen geht. Das ist typisch für XR, weil auch hier viel auf Regeneration, also eine gesunde, belastbare Kultur, und Gemeinschaft gesetzt wird. So wird z.B. Regeneratives Bouldern geplant oder über eine positivere Gestaltung des Plenums geredet. Anschließend gibt es Updates der Arbeitsgruppen, in denen XR strukturiert ist. Da wären zum Beispiel die Kreativ AG, die Flyer und Aktionen gestaltet, die On Boarding AG, in der überlegt wird, wie man die Message unter den Menschen verbreiten kann und noch andere. In diesen trifft man sich und plant gemeinsam.

1. Sagt die Wahrheit

Die Zahl der Ortsgruppen und Rebell*innen von Extinction Rebellion nimmt zu. Allerdings wurde die junge Bewegung schon im November durch einen Skandal um den Mitbegründer, Roger Hallam, erschüttert. Er hatte in einem Interview mit der ZEIT den Holocaust relativiert. Dieser sei für ihn „just another fuckery in human history”, er sei überbewertet und lähme das Land. Es sind Aussagen, die die Ortsgruppen aufgewühlt haben und nach klaren Statements verlangen. Nach neuen Strukturen, der Frage nach Reaktionen. In Bamberg hat man sich klar von ihm distanziert.

“Sagt die Wahrheit”, die erste Forderung von XR, steht in Bamberg noch im Mittelpunkt. Die Rebell*innen wollen informieren, präsent sein, Leute für die Gruppe und die nächste Berlin Blockade akquirieren. Dazu wird beim Plenum ein unfertiger Flyer herumgereicht. Was ist XR und was kann ich konkret machen? Das soll hier beantwortet werden. Dabei soll nüchtern, mit Fakten, informiert werden – „Listen to science” wird in den Raum geworfen, ein Spruch der Klimaaktivistin Greta Thunberg. Im Moment ist die Gruppe in Bamberg noch sehr homogen — sehr viele Mitte 20-jährige Studentinnen, weniger ältere berufstätige Menschen. Das soll sich aber bald ändern. “Jede*r soll das Gefühl haben, einfach mal vorbeischauen, hereinschneien zu können“, sagt eine Rebellin.

Marie moderiert heute das Plenum. Sie ist auch die, die die Ortsgruppe gegründet hat. „Ich bin erst seit der letzten Europawahl politisch“, erklärt sie. Das war der Anstoß, der Punkt, an dem sie Dinge nicht mehr nur mit sich klären wollte. Erst bei der Grünen Jugend aktiv, dann den Aktivismus für sich entdeckt. Das “Klare Kante zeigen” fand sie dann bei XR — “Mir hat Fridays for Future nicht gereicht.” Manche mögen das radikal nennen, für sie ist das wichtig, um wirklich gehört zu werden. Ihr Herzensprojekt sei ein autofreies Bamberg, sagt sie. Die Lange Straße ohne Autos, mehr Platz für alle, die Fahrrad fahren oder zu Fuß gehen. Daraus würden sich sicher auch noch konkrete Aktionen ergeben. Auch im Plenum redet man von neuen Plänen. Man will endlich richtig aktiv werden.

2. Handelt jetzt

Katharina hat die ersten zwei Infotalks organisiert, die in Bamberg bis jetzt stattfanden. Auch eine Aktion gab es in Bamberg bereits: Rebell*innen hatten zusammen mit anderen die gelben Säcke um den Maxplatz herum gesammelt und zu einem Haufen vor dem Rathaus aufgehäuft. Zwanzig Leute hatten innerhalb von einer Stunde einen 2,5 Meter hohen Müllberg errichtet. “Das sollte die Masse an Plastikmüll zeigen, die ein moderner Mensch produziert”, erklärt Katharina. Man wolle damit zeigen, dass jede*r ein Teil davon ist, nicht verärgern, sondern nur darauf hinweisen. Klar dafür stehen, dass es auch anders gehe. Unter dem Artikel des Fränkischen Tags zu dieser Aktion finden sich Kommentare, die (Selbst-) Morde wünschen und die Rebell*innen als faule Schulschwänzer bezeichnen.

Katharina erzählt, dass auch sie erst seit Kurzem politisch interessiert sei; erst seit Kurzem ihren Kopf aus dem Sand gezogen hätte und vom “Alleine kann ich eh nichts tun” zum Aktivismus kam. Seit sie nämlich mit einem Freund, Student der Energiewissenschaften und Mitglied der XR-Ortsgruppe in Erlangen, öfter über Klimawandel geredet hätte. Seit er ihr Fakten und Daten vorgerechnet hätte, weil er wütend geworden war, über mediale Fehlinformationen und Fake News. Da waren sie sich einig, dass man da etwas machen müsste. Er sei auch derjenige gewesen, der sie zum ersten Mal mit zu einem XR Treffen genommen habe, wo sie die Offenheit der Rebell*innen und die Gesprächskultur überzeugt hatte.

Für Katharina bestimmt bei XR vor allem, dass jede*r das einbringt, was er oder sie kann und will. Niemand sei zu einer Leistung gezwungen. Sie ist auch eine der wenigen hier, die nicht studieren. Sie arbeitet gerade im Krankenhaus, im Schichtwechsel.

3. Politik neu leben

Extinction Rebellion wünscht sich einen Systemwechsel. “Demokratie” ist die dritte Hauptforderung. Eine direkte Demokratie, nämlich in Form einer Bürger*innenversammlung, in der sich ein Querschnitt der Gesellschaft trifft und bindende Entscheidungen für die Politik fällt. Input soll es dabei von unabhängigen, rotierenden (um Korruption zu vermeiden) Fachleuten geben, ein*e Moderator*in soll für die nötige Gesprächskultur sorgen. Pro Sitzung soll immer nur ein Sachverhalt diskutiert werden. Ein theoretisches — utopisches — Konzept, dass von Sozialwissenschaftler*innen ausgearbeitet wurde. Unklar, was bei Notstand passiert. Wie man einen Querschnitt der Gesellschaft bekommt, wie das eigentlich in der Praxis funktionieren kann. Aber XR setzt auf Neues, auf eine radikalere Demokratie, vielleicht, auf einen Systemneustart.

Warum aber bezeichnet sich eine solche Gruppe nicht als antikapitalistisch, wird häufig von anderen Klimaaktivist*innen kritisiert, Kapitalismus und radikaler Klimaschutz gehen schlecht zusammen. Aber XR ist das zu definitiv, zu abschreckend für manche Leute, will man doch alle erreichen. Die Bewegung ist auch strikt parolenfrei. Sprüche, die bei anderen Demonstrationen gerufen werden sind ihnen häufig zu radikal, zu offensiv. Denn niemand soll davon verschreckt oder angegriffen werden.

Check-out

Katharina wird auf das nationale Vernetzungstreffen in Heidelberg fahren, wo über die Zukunft der Bewegung geredet werden soll. Über das Organisieren und Vernetzen. Über den Umgang mit Hallam. “Wollen wir uns politisieren?” ist eine der Fragen, die in den Ortsgruppen diskutiert und zum Vernetzungstreffen mitgebracht werden soll. Zur Fakten- und Tatsachenbeschaffung schon, aber man wolle sich nur auf den Klimanotstand konzentrieren, wird gesagt. Man will Distanz halten zu Parteien, zu konkreten Persönlichkeiten; Einfluss nehmen auf Politik, also so unangenehm werden, dass reagiert werden muss.

Am Ende des Plenums gibt es einen sogenannten Check-out. Jede*r sagt noch einmal, wie es ihm oder ihr geht. Es sei wichtig, hier auch mit einem positiven Gefühl rauszugehen, heißt es. Katharina gibt eine „Eins mit Sternchen“ für die ganzen guten Ideen. Marie hofft, dass sich die Gruppe vergrößern wird. Dass noch mehr Menschen kommen werden, zu der Bewegung, die im April das nächste Mal die Hauptstadt lahmlegen will — für das Klima, für die Zukunft.

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