Dabei sein ist alles. Und Anna is(s)t alles. Anna ist…
Was hat Sie an den Ergebnissen besonders überrascht und warum?
Überrascht war ich gar nicht mal so sehr. Dass in Deutschland die AfD zulegt, war eigentlich zu erwarten. Eher überraschend war es vielleicht, dass die rechten Parteien nicht in allen Staaten so sehr zugelegt haben, sondern besonders in den Gründerstaaten, wie Deutschland, Frankreich und Italien. Wenn man sich die Umfragewerte für die AfD von Januar ansieht, lag die AfD ungefähr bei 22 Prozent und jetzt sind sie bei ungefähr 16 Prozent, also deutlich darunter.
Wie würden Sie erklären, dass die AfD vor allem in den neuen Bundesländern und bei jungen Wähler*innen zugelegt hat?
Dazu kann ich nur spekulieren. Ich glaube es gibt sehr viel Unzufriedenheit, gerade mit den etablierten Parteien. Vor allem im Osten denke ich, dass sich viele abgehängt fühlen. Zu dem Thema mit den jungen Wähler*innen gibt es ja immer das Argument, dass die AfD auf TikTok sehr erfolgreich Werbung mache und eine erfolgreiche Kampagne hatte. Dazu hat aber, glaube ich auch geführt, dass viele mit der aktuellen Regierung nicht so zufrieden sind. Was man noch sehen muss, ist, dass junge Männer auch einen deutlich höheren, also fast doppelt so hohen Anteil an Stimmen für die AfD hatten, auch unter jungen Leuten. Vielleicht hängt das jetzt auch mit gesellschaftlichem Wandel zusammen, dass Frauen oft progressiver denken und Männer denken, ihnen wird etwas weggenommen.
Können wir die Ergebnisse dann auch als Appell an die aktuelle Bundesregierung sehen?
Ich denke schon. Die EU-Wahlen werden auch “Second Order Elections” genannt, weil sie von vielen Wähler*innen als zweitrangig angesehen werde, wo man nochmal die Regierung bewertet, weil es da “nicht so wichtig” sei, wer jetzt genau ins Parlament geht. Von daher war es schon immer so, das Regierungsparteien bei der Europawahl eher schlechter abgeschnitten haben. Aber das ist im europäischen Bild auch unterschiedlich: In Italien hat die rechte Regierungspartei zum Beispiel recht gut abgeschnitten.
Wie stark erscheint Ihnen das Erstarken der rechten Parteien im Europäischen Parlament?
Ich habe dazu extra mal eine Grafik von Seite des Europäischen Parlaments zu den Wahlen rausgesucht, die die Wahlergebnisse zeigt. Hier kann man einen Vergleich sehen, zwischen dem letzten und jetzt wahrscheinlich kommenden Parlament. Und es ist gar nicht mal so anders. Es gibt natürlich noch “die grauen Teile”, die noch nicht zugeordnet sind. Also die fraktionslosen und neue Mitglieder, die noch keiner bisherigen Fraktion zugehören.
Bei den fraktionslosen Parteien ist aktuell auch noch die AfD, die ja aus der ID rausgeflogen ist. Da stellt sich jetzt die Frage, ob sie eine neue Gruppe gründet, versucht wieder hineinzukommen oder etwas anderes vorhat. Bei den neuen Mitgliedern ist zum Beispiel das Bündnis Sarah Wagenknecht. Das muss sich jetzt noch entscheiden, ob es sich irgendwo anschließt oder nicht.
Insgesamt haben sich die Mehrheiten nicht großartig verändert. Bis vorletzter Wahlperiode gab es immer eine Mehrheit zwischen den beiden größten Parteien, also den Christdemokraten und den Sozialdemokraten. Seit letzter Wahl, wo es eigentlich schon den Rechtsruck gab, ist das nicht mehr so. Seitdem können die beiden Fraktionen aber entweder mit den Liberalen oder den Grünen eine Mehrheit bilden. Das ist dieses Mal auch noch so. Die Rechten hingegen haben keine Mehrheit. Das einzige, was passieren kann, ist, dass die rechten Fraktionen mehr blockieren können, da bei manchen Themen nicht immer alle aus einer Fraktion gleich abstimmen, sondern häufig auch nach nationalen Parteien. Dann kann es sein, dass sich das ein bisschen mehr verschiebt.
Gibt es schon Theorien, wie sich AfD und BSW einordnen?
Dass die AfD aus der ID rausgeflogen ist, lag vor allem an Maximilian Krah. Die AfD hatte jetzt schon versucht, zu verhandeln, dass er alleine die ID verlässt und sie als Partei wieder hineinkommen. Jetzt, wo Maximilian Krah ausgeschlossen wurde, könnte es theoretisch passieren, dass die AfD wieder in die ID hineinkommt. Oder sie gründet wahrscheinlich eine neue Gruppe, wenn sie genug findet, die mitmachen. Bei Sarah Wagenknecht weiß ich das gar nicht, ob sie irgendwie vorhat sich irgendwo hinzuzuschließen. Das muss sie wahrscheinlich selbst noch entscheiden.
Gibt es eine Erklärung dafür, dass in vielen Ländern die rechten Parteien so zugelegt haben?
Ich weiß nicht, ob man das so generell sagen kann. In Schweden gibt es ja eh schon eine rechtere Regierung. Und das ist vielleicht auch noch überraschend: Die haben nämlich nicht so gut abgeschnitten bei der Europawahl. In Schweden wurde jetzt eher wieder links-grün gewählt. Und in Spanien hat die rechtspopulistische Vox auch nicht so stark zugelegt. Eigentlich ist es eher beunruhigend, dass der “europäische Motor”, den immer Deutschland, Frankreich und andere Gründerstaaten gebildet haben, jetzt EU-kritischer ist.
Kann es auf lange Sicht zu einem Auseinanderfallen der EU kommen?
Aktuell ist da noch nicht so ein großer Einfluss, aber wenn es mehr wird, vielleicht schon. Das Parlament hat sich jetzt auch ein bisschen an die nationalen Regierung angepasst, die schon rechter sind als das bisherige Parlament. Der Rat der Europäischen Union entscheidet immer mit dem Parlament zusammen und hat in manchen Themenbereichen auch mehr Befugnisse. [Anmerkung der Redaktion: Der Rat der Europäischen Union setzt sich in unterschiedlichen Konstellationen aus den jeweiligen Ministerpräsident*innen der Mitgliedsstaaten zusammen.] Das heißt, es war bisher sowieso schon so, dass eher rechtere Regierungen die Entscheidungen mitgetroffen haben. Das heißt, das Parlament ist nur ein bisschen in Richtung Rat gegangen. So groß ist die Veränderung dann eigentlich gar nicht. Denn grundsätzlich muss das Parlament ja schauen, wie es Kompromisse mit dem Rat findet, auch schon vorher.
Mit Blick auf die Wahlbeteiligung fällt auf, dass sie in einigen recht neuen Mitgliedsstaaten, wie Kroatien oder Bulgarien, sehr gering ist. Wodurch kommt das?
Was genau die Gründe sind, weiß ich jetzt nicht, aber das ist eine generelle Tendenz. Also auch Tschechien zum Beispiel interessiert sich auch immer nicht so für die EU, beziehungsweise ist eher EU-skeptisch. Ich glaube, bei vielen von den neueren Mitgliedsstaaten sind gar nicht alle so pro-europäisch oder interessieren sich gar nicht so sehr für Europa.
In Deutschland ist die Wahlbeteiligung besser geworden. Vor allem letztes Jahr gab es einen starken Anstieg von vorher immer so ungefähr 40 bis 50 Prozent auf 62 Prozent. Ich glaube schon, dass das daran lag, dass es da so eine große Kampagne gab: “Wir müssen wählen gehen, damit die Rechtspopulisten und die EU-Kritiker nicht die Überhand gewinnen. Wir müssen uns einsetzten für die EU.” Das hat schon was geholfen. Dieses Jahr ist die Wahlbeteiligung nochmal gestiegen, auf fast 65 Prozent. Der EU-Durchschnitt ist ebenfalls gestiegen. Trotzdem wird die Wahl bei den meisten als weniger wichtig gesehen als beispielsweise nationale Wahlen.
Woran liegt das?
Ich glaube, dass immer noch ein Fokus auf dem Nationalstaat liegt. Vielleicht kommt auch Unwissenheit dazu. Das ist auch etwas kompliziert, wie jetzt die Entscheidungsfindung stattfindet. Wenn man dann nicht weiß, was gemacht wird, interessiert man sich dafür vielleicht auch weniger. Dazu kommt auch noch, dass der Wahlkampf der Parteien sehr auf den Nationalstaat bezogen ist, da es ja auch nationale Parteien sind. Dadurch werden dann weniger europäische Themen angesprochen, sondern eher, nationale Themen, die auf europäischer Ebene durchgesetzt werden sollen.
In Frankreich hat die rechte Partei Rassemblement National die Wahlen deutlich gewonnen. Der Präsident Macron hat daraufhin das Parlament aufgelöst. Was halten Sie davon?
Das hat mich ehrlich gesagt auch sehr überrascht. Ich finde das auch sehr gefährlich, weil gerade zu einem Zeitpunkt, wo die Rechten so einen großen Vormarsch haben, ist das riskant. Was genau dazu die Strategie ist, weiß ich nicht.
Was bedeuten die Wahlen für Europa?
Das wird sich zeigen. Vor allem mit den Koalitionen: Ob sich die Christdemokraten gegenüber rechtsextremen Parteien öffnen und mit denen koalieren oder nicht. Es gibt die sogenannte Cordon sanitaire, sozusagen eine Trennlinie zwischen den rechtsextremen und EU-skeptischen Parteien einerseits und den anderen Parteien andererseits. Es wird dann gesagt mit den rechtsextremen Parteien koalieren die gemäßigten Parteien nicht oder treffen keine gemeinsamen Entscheidungen. Das ist auch nicht immer komplett so gewesen. Dementsprechend bleibt die Frage, ob diese Linie bleibt oder sich weiter aufweicht. Vor allem bei Entscheidungen mit knapperen Mehrheiten. Außerdem bleibt es spannend zu sehen, inwiefern die rechtsextremen oder europakritischen Parteien überhaupt auf einen Nenner kommen, weil wenn eine ihren Nationalstaat so in den Vordergrund stellt, passt das nicht unbedingt mit den anderen Nationalisten zusammen. Es kann aber natürlich auch sein, dass die rechtsextremen Parteien einfach weiter boykottieren.
Was finden Sie noch wichtig in Bezug auf die Ergebnisse?
Vielleicht noch, dazu dass es vielleicht beunruhigend wirken könnte, dass die AfD quasi die zweitstärkste Macht gerade in Deutschland ist: Das kommt auch durch eine Parteiensplitterung. Die großen Parteien, wie SPD und Grüne haben etwas weniger bekommen, aber dafür hat es sich auf kleine Parteien, wie das Bündnis Sarah Wagenknecht oder Volt, aufgeteilt. Unter anderem daran liegt es auch, dass die AfD jetzt zweitstärkste Partei ist. Aber die Mehrheit ist jetzt nicht europakritisch oder extrem rechts. Das muss man auch immer ein bisschen im Auge behalten.
Dabei sein ist alles. Und Anna is(s)t alles. Anna ist wohl die einzige Autorin, die beim Ottfried kein Spezi trinkt. Kohlensäure ist ihr Endgegner. Das hält sie nicht davon ab, mit voller Fahrt dabei zu sein.