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RE 4040
Dunkel Hell

RE 4040

  • „Indem wir öffentlich sprechen, machen wir uns nicht zu Opfern, im Gegenteil: Wir ent-opfern uns.“ — Margarete Stokowski

Triggerwarnung: Sexuelle Gewalt.

Ich sehe, dass du mich siehst.

Du sitzt allein auf einem Doppelsitz, quer, mit dem Rücken ans Fenster gelehnt. Deine nackten Füße stellst du auf der Armlehne ab. Du trägst keine Maske, das fällt mir auf, denn deshalb blicke ich dich vielleicht eine Sekunde länger als die Frau an, die sich gerade im Gang mit ihrem Koffer vorbeischiebt. Du hast das aber bemerkt, sodass dein Schauen zum Starren wird. Ich wende mich von dir ab und setze meine Kopfhörer auf. Mein langer Blick war dir bestimmt unangenehm.

Der Schaffner kommt und kontrolliert unsere Fahrkarten. Du nimmst deine Füße nicht von der Lehne, das verwundert mich. Sobald er weg ist, legst du dich wieder breitbeinig in die Polster zurück. Ich fühle mich unwohl, weiß aber nicht einmal warum. Soll er halt, darf ja jeder sitzen, wie er möchte. Ich mag eben keine Füße.

Dann fangen deine Finger jedoch langsam an, auf deiner Hose herumzudrücken. Die Bewegung überrascht mich und lässt mich erneut zu dir blicken. Ich sehe, wie deine Finger nach und nach zu den Bändern deiner Hose wandern und daran ziehen. Ich fühle mich ertappt, weil ich in deine Privatsphäre eindringe, und drehe mich schnell wieder weg. Die große Beule in deinen Shorts habe ich mir bestimmt nur eingebildet.

Langsam weicht aber meine Vermutung einer Ahnung. Du meinst mich. Ich möchte dich aber bloß nicht mit falschen Anschuldigungen strafen. Ich schaue nochmal in deine Richtung. Deine Hand ist inzwischen in deiner Hose. Du fixierst mich. Mit einem Lächeln. Warum habe ich nicht den nächsten Zug genommen?

Ich spüre, dass du mich siehst.

Ich versuche, dich zu ignorieren. Das ist dir egal, dein Blick liegt auf mir, deine Bewegungen werden schneller. Manchmal taucht deine Hand wieder auf deinem Bauch auf. Aber sobald sich mein Kopf wieder in deine Richtung dreht, meine Augen vorsichtig folgen, um mich zu vergewissern, ob es jetzt vorbei ist, steckst du sofort deine Finger zurück in deine Hose. Zu dem Etwas, was du bestimmt ganz liebevoll „Schwanz“ oder „kleiner Kämpfer“ nennst, wenn du dich zuhause vor dem Spiegel betrachtest, deinen Körper inspizierst und feststellst: alles geil.

Oder machst du das überhaupt? Siehst du dich selbst an? Ich tue das. Oft. Ich sehe meine Reflexion und erkenne mich. Jedes Muttermal, jede Falte, meine einzige Narbe neben meinem Bauchnabel. Ich weiß, in welchem Körper ich mich befinde und kenne mich.

Doch in diesem Moment machst du mich zur Fremden meiner Selbst. Ich bin nur noch ein Klumpen Fleisch, der meine Organe einsperrt. Mein Kopf ist aber da, wach, viel zu wach. Er schreit mich an, steh auf, geh hin, sag was. Irgendwas. Dann hört er bestimmt auf. Aber mein Körper rührt sich nicht mehr, weil jede meiner Bewegungen deine Geilheit antreibt.

Ich bin nicht mehr komplett. Meine Hände umklammern mein Telefon, meine Augen starren auf das Display, auf dem ich im Gruppenchat Hilferufe absende. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Kann jemand antworten? Keiner reagiert. Trotzdem aktualisiere ich immer wieder meine Nachrichten, damit ich im Schutz des virtuellen Raums verschwinden kann. Deine Spiegelung im Fenster, das Auf und Ab neben meinem Gesicht, kann ich aber nicht ausblenden. Warum nicht der nächste Zug?

Irgendwann stoppst du. Stehst auf und gehst auf die Toilette. Wahrscheinlich, um den letzten Rest deiner Erregung in die Metallschüssel abzuspritzen. Sobald die Tür zufällt, packe ich meine Sachen und gehe im Abteil nach vorn. Weg, einfach weg. Leute starren mich an, niemand hat etwas mitbekommen. Sobald ich sitze, fühle ich mich erleichtert, da du mich hier bestimmt nicht mehr sehen kannst.

Bis der Zug in den Bahnhof einfährt. Ich höre die Durchsage und reihe mich sofort in die Schlange der Wartenden ein. Doch du wartest nicht. Im Augenwinkel sehe ich dich schnell den Gang entlanglaufen, zu mir, obwohl ein anderer Ausgang dir viel näher wäre. Bis du direkt hinter mir stehst. Mein Blick bleibt starr nach vorn, vielleicht hat sich ja doch noch jemand anderes zwischen uns geschoben, hoffe ich.

Dann spüre ich, dass du mich spürst.

Wie zart du bist, mit deinem einzelnen Finger, der leicht am Saum meiner Shorts entlangstreift. Mit der Hand, von der wahrscheinlich gerade noch dein Sperma tropfte. Und endlich reagiert mein Körper und dreht sich von dir weg. Kurze Hoffnung und Übelkeit durchzuckt mich, vielleicht wehre ich mich ja gerade. Aber dann bemerke ich, wie du neben mir stehst. Klein und schmächtig, viel kleiner als ich. Wie du jeden Zentimeter meines Körpers mit deinen Augen begrabschst. Ich will dich ansehen, mir merken, aus welchen Bruchstücken sich dein Gesicht zusammensetzt, damit ich es später rekonstruieren kann. Aber dein Gaffen versetzt mich zurück in die Starre, mein Blick folgt nicht meinem Willen. Warum nicht der nächste Zug?

Meine erzwungene Passivität deutest du allerdings als aktive Ablehnung, zumindest scheint es so – denn du machst auf einmal einen Schritt zurück. Lässt einen anderen Gast vor, als sich die Türen des Zuges öffnen. Ich steige auf den Bahnsteig, laufe die Treppen hinunter.

Dann kommt mit aller Kraft mein Körper zurück. Er rennt. Weg, auf das nächste Gleis, auf dem ich wieder warten muss. Wo mich andere Menschen ansehen, ich weiß aber nicht, mit welcher Absicht. Wollen sie dasselbe wie du? Wollen sie mich für sich haben? Oder ist mein Atem nur plötzlich viel zu laut, sodass ich mich viel zu auffällig verhalte? Meine Sicht ist beschränkt, meine Ohren hören meinen Puls. Dann ein Vibrieren in meiner Hand. Ein eingehender Anruf. Ich höre ein Wo bist du und ein Ich hole dich ab. Antworten kann ich nicht.

Das Danach ist jedoch fast genauso schlimm wie das Jetzt. Ich bin in Sicherheit, das weiß ich, aber ich gehöre immer noch nicht mir. Du solltest zur Polizei, höre ich. Eine gute Idee, das Richtige. Aber ich will nicht reden, ich weiß nicht einmal worüber. Vielleicht hast du ja doch nicht mich gemeint. Vielleicht habe ich mir den leichten Druck auf meinem Po nur eingebildet. Das einzige Nicht-Vielleicht ist dein Gesicht, es ist ein Nein. Weil ich nicht den Mut hatte, dich anzusehen. Meine Stimme einzusetzen. Doch auf meine Scham trifft Verständnis. Ist alles ok. Ruh dich aus. Essen ist gleich fertig.

Bis eine Frage meine Gedanken durchbricht:
Was willst du tun?

Ich will meinen Körper zurück. Ich will mich zurück. Ich will nicht, dass du die Macht hast, dass jeder flüchtige Blick, jede hoffnungsvolle Berührung eines anderen Mannes in Zukunft eine Erinnerung an das ist, was du mir genommen hast. Ich will in tausend Züge steigen und an unzählige, unbekannte Orte fahren, ohne daran denken zu müssen, dass du mich dabei beobachtest. Aber vergessen, dass du mich gesehen hast, will ich nicht. Denn solltest du mir vielleicht die Kontrolle über meinen Körper genommen haben – meine Sprache nimmst du mir nicht.

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