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Kein Mensch läuft illegal über die rote Ampel
Dunkel Hell

Kein Mensch läuft illegal über die rote Ampel

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Wäre Walaa Ezzedin (27) in Deutschland geboren worden, stünden ihr heute alle Türen offen. Die junge Frau mit den kinnlangen dunklen Haaren ist klug, sympathisch und vielseitig talentiert: Sie hat einen Bachelorabschluss in Übersetzungswissenschaften, spricht neben ihrer Muttersprache Arabisch fließendes Englisch, ein wenig Französisch und, nach nur einem Jahr Lernzeit, ausgezeichnetes Deutsch. Neben Sprachen interessiert sie sich auch für Mathematik und Naturwissenschaften; in ihrer Heimatstadt Homs hatte sie viele Freunde, tanzte gerne und engagierte sich sozial.

Aber dann kamen die syrischen Streitkräfte, die Bomben und die Gewalt. Walaa verlor ihr Haus, den Großteil ihrer Verwandten und viele Freunde an den Krieg. Ihre sonst fröhliche Miene verdüstert sich, wenn sie davon erzählt, und hinter ihrer offenherzigen Art sind tiefe, nicht verarbeitete Traumata zu erahnen. Vor einem Jahr machte sie sich alleine auf den Weg nach Europa. Ihr Weg führte durch die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, die Slowakei, Kroatien und Österreich; Walaa war auf Schlauchbooten, in Zügen, Bussen, Flugzeugen und — vor allem — zu Fuß unterwegs. Heute wohnt sie in einer vom Jobcenter finanzierten Einzimmerwohnung in Forchheim.

Walaa ist eine von etwa acht Flüchtlingen, die sich am späten Mittwochnachmittag mit einem Dutzend Deutscher auf dem Grünen Markt zum Laufen treffen. Das WildWuchs Theater hat die Aktion „Kein Mensch läuft illegal” im Februar ins Leben gerufen: „ein integrativer Lauftreff, in dem gezielt das sportliche Miteinander von Bambergern und Geflüchteten gefördert wird“, so beschreibt sich das Projekt auf seiner Website selbst.

Das Wort „Lauftreff“ mag zunächst abschreckend auf manche Menschen wirken, viele werden sich denken: „Müsste ich, um mitzumachen, nicht erstmal aktiv (ha), sportlich (haha) und durchtrainiert (hahaha) sein?“ Tatsächlich aber ist das Projekt nicht nur Flüchtlingen, sondern auch unsportlichen Leuten gegenüber überaus tolerant. „Niemand wird zurückgelassen“ lautet die Devise.

Jeder kann so schnell oder langsam laufen, wie er will; hängt jemand weit zurück, macht die Gruppe in der Zeit Dehnübungen. Die meisten Lauftreffs stehen unter einem konkreten Motto, sei es „Laufen gegen Rechts“ (nur Linkskurven) oder Streckensilhouetten von „sicheren“ Herkunftsländern. Aber eines hat jede Strecke gemeinsam: Sie führt durch das Stadtzentrum, vorbei an der größtmöglichen Anzahl von Beobachtern.

Seht her, wir sind hier, wir verstecken uns nicht, wir überfallen euch auch nicht — wir wollen nur laufen. Die Gruppe, die sich am heutigen Tag zusammengefunden hat, könnte heterogener kaum sein. Die Altersspanne reicht von achtzehn bis vierzig — da ist Mirjam, die barfuß läuft und demnächst mit ihrer Schwester Bambergs ersten Unverpackt-Laden eröffnet. Die Psychologiestudentin Melanie und ihre Bekannte Midya, eine Musiklehrerin aus Syrien, die ihrem Mann nach Deutschland gefolgt ist. El Hussein, der erst seit einem Monat hier ist, sich aber in seiner Heimat Marokko bereits selber ein wenig Deutsch beigebracht hat, und dessen Foto kürzlich im Fränkischen Tag abgedruckt wurde (darauf läuft er als Erster über die Ziellinie, allerdings aus der falschen Richtung) und Hanne, eine junge Mutter, deren Mann sich beim WildWuchs Theater engagiert und das Projekt mitentwickelt hat.

Hin und wieder schreit jemand „BOMBE!“ und die ganze Gruppe wirft sich synchron auf den Boden

Sie alle legen die drei Kilometer mit mehr oder weniger Anstrengung zurück. Es wird viel geredet, viel gelacht, nur knapp entgehen wir einer Massenkarambolage mit einem Bus. Hin und wieder schreit jemand „BOMBE!“ und die ganze Gruppe wirft sich synchron auf den Boden, was von Beobachtern mal mit Belustigung, mal mit Missbilligung, meistens aber mit Verwirrung quittiert wird. Zwischendurch bleiben sie stehen, um Fragen von Passanten zu beantworten oder auf Nachzügler zu warten — und natürlich, typisch deutsch, wenn die Fußgängerampel rot ist. Kein Mensch läuft illegal, und schon gar nicht über die rote Ampel.

Walaa war von Anfang an bei fast jedem Lauftreff dabei. Sie hat sich in Forchheim und Bamberg einen kleinen Freundeskreis aus Deutschen und anderen Flüchtlingen aufgebaut, über den sie auch von den integrativen Projekten des WildWuchs Theaters erfahren hat. Wie es jetzt für sie weitergeht? Sie sucht nach einer neuen Wohnung und hat sich an einigen Universitäten auf Masterplätze in Anglistik, Ingenieurwissenschaften und Informatik beworben. Erst im Februar 2018 wird sie erfahren, ob ihre Aufenthaltsgenehmigung um weitere zwei Jahre verlängert wird. Bis dahin wird sie weiter Deutsch lernen, Kontakte knüpfen, das Land bereisen. Und laufen.

„Kein Mensch läuft illegal“ trifft sich jeden Mittwoch und Samstag in der Innenstadt. Eine Voranmeldung ist nicht nötig. Weitere Informationen sowie Zeit und Ort des nächsten Lauftreffs gibt es unter https://keinmenschlaeuftillegal.wordpress.com.

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