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I have nothing!
Dunkel Hell

I have nothing!

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  • Soweit ich mich erinnern kann, haben wir bislang immer Urlaub in den Bergen gemacht. Meine Jugendfreunde und ich sind Mountainbiker, wir kennen Südtirol, das Allgäu und Berchtesgaden. Etwas zu gut. Der diesjährige Sommer sollte anders werden, wir wollten länger und weiter weg. Die Wahl fiel auf Norwegen.

Dienstag

Ein Kilo Brot, ebenso viel Schokolade, zwei Stangen Salami, drei Packungen Kekse, 20 Liter Wasser und erste Anzeichen eines Lagerkollers haben uns die vergangenen zwei Tage gekostet, ehe wir an der dänischen Küste auf die Fähre gelangt sind. Die Entscheidung, zu viert und mit Unmengen an Gepäck drei Wochen in einem Auto zu reisen, lässt sich gut an.

Mittwoch

An unserem ersten Morgen auf dem norwegischen Festland stehen wir im Verkaufsraum des Allzweckladens von Hjelmeland, einem kleinen Küstendorf nordwestlich von Stavanger, und vertreiben uns die Zeit mit dem Begutachten der Preisschilder. Gaskartuschen, Wollsocken und Sellerie liegen allesamt zu mindesten 100% über dem deutschen Preisniveau. Dieser Qualitätsindex überzeugt einen Freund und er erkundigt sich an der Kasse zum Thema Angelausrüstung. „What do you need?“, fragt die Verkäuferin, „Everything“, antwortet er und verlässt das Geschäft einige Minuten später mit einer Komplettausrüstung zum Fliegenfischen. Sündhaft teuer und die beste Entscheidung der Reise.

Donnerstag

Wir haben unseren Zeltplatz für heute Nacht später erreicht als geplant. Schuld sind die kurvige Straße, einige Fährfahrten und unser neues Hobby. Das Abendessen selbst erlegt zu haben, weckte bei uns eine makabere Lust auf mehr. Jede Stunde gab es eine Essens‑, jede halbe eine Angelpause. Deshalb bleibt nun keine Zeit mehr für große Ausflüge. Da wir aber eigentlich weder einen Plan haben, noch einen machen wollen, kümmert das keinen. Mein Handy steckt ausgeschaltet irgendwo im Koffer, eine Uhr trage ich nicht. Solange es hell ist tut man, worauf man gerade Lust hat, danach auch. Im Augenblick ist das Fischen. In zwei Stunden am äußersten Rand einer meerumspülten Felszunge lese ich vier Seiten meiner Urlaubslektüre, da zwischendurch immer wieder ein Fisch erschlagen werden muss, derer sieben sind es am Abend. Wir laden unseren Nachbarn ans Feuer ein, um die Herausforderung gemeinsam zu bewältigen.

Sonntag

Sämtliche zwei Stunden Wegstrecke zum Preikestolen, einem riesigen exponierten Felsvorsprung über dem Lysefjord, sind hoffnungslos überlaufen. Wir überholen ganze Familienclans, Kinder werden getragen, Großeltern geschoben und gezogen. Am Ziel wartet man 30 Minuten für ein Foto vor unverstellter Kulisse. Wir kehren um, schlagen hinter der nächsten Bergflanke unsere Zelte auf und warten im einsetzenden Regen den Abend ab. Um 21 Uhr ist die Felskanzel leer. Zeit für unbeobachtete Momente vor der Kamera, danach zurück ins Zelt.

Montag

Der nächste Morgen zieht über dem Fjord zu unseren Füßen herauf und öffnet den Blick auf eine sonnenbeschienene Wasserstraße, die 25 km ins Festland hinein reicht. Körnerbrot und Marmelade schmecken uns hier oben so gut wie noch nie.

Donnerstag

Gestern Abend hat sich zum ersten Mal jemand für unsere Personalien interessiert und das Geld für den Zeltplatz nicht bei Abreise im Briefkasten sondern bei Ankunft auf dem Rezeptionstresen sehen wollen. Wir scheinen uns stärker besiedelten Gegenden zu nähern. Genau genommen ist Bergen nach Oslo die zweitgrößte Stadt des Landes. Hier gibt es sogar eine Uni, die von Bamberger Studenten nicht einmal unbedeutend frequentiert wird. Es geht zum Hafen. Eine überauthentisch lächelnde Dame in einer Art bayerisch anmutendem Catsuit wirbt auf einem gigantischen Banner für ein sogenanntes „Oktoberfest“ mit „Andi und Konny Kitztiroler“. Es ist auf den bemalten Planken eines alten Bootshauses angebracht und spannt einen recht schrillen Kontrast über das Gewühl tätowierter Hafenarbeiter mit Norwegenflagge auf der Latzhose um die Stände des Fischmarktes. Wir wenden uns, irritiert von so viel Kulturmischmasch, ab und besuchen eine Straße weiter das Hanseatische Museum.

Samstag

Die Zubereitung der Pfannkuchen auf zwei kleinen Campingkochern gestaltet sich aufwendiger und schmutziger als gedacht. Vor dem Zelt regnet es. Darüber auch, aber davon ist nichts zu spüren. Deshalb sitzen wir ja drinnen und nicht draußen. Dafür muss am Ende der gesamte Innenraum ausgewischt und vom Teig befreit werden. Doch wenn wir eines haben ist es Zeit. Dummerweise hilft auch das nichts, denn wir haben keine Lust, reinlich zu sein. Also mieten wir ein Motorboot (ohne Führerschein, aber wen sollte das hier kümmern), verheizen 35 Liter in drei Stunden und fangen keinen Fisch. Um dem Tag dennoch etwas Lohnenswertes abzutrotzen, gibt es Pfannkuchen zum Abendessen – herzhaft.

Sonntag

Wir haben uns getrennt. Vermutlich zum Glück. Reisende soll man nicht aufhalten und Schlafende nicht wecken. Ich rechne mich für den Moment in Gesellschaft eines Freundes zur zweiten Gruppe und beginne den Tag etwas später mit Lesen und Keksebacken über offenem Feuer an irgendeinem Gebirgssee zwei Autostunden von der nächsten Stromleitung entfernt. Die Kekse misslingen. Wir steigen wieder ins Auto und fahren noch ein Stück durch das Hardangervidda, die größte Hochebene Europas, stürmisch und nasskalt. Hier wachsen Gras und knotiges Gestrüpp bis knapp über Knöchelhöhe. Das war’s. Wir biegen an der ersten Möglichkeit nach zweieinhalb Stunden Fahrt ab und stoßen an eine Schranke, die wohl eine Art Zollgebiet kennzeichnet. „Füllen Sie ihre Details, steckte das Geld in den Umschlag und steckt es in die Zahlungs Feld“, wird man per Anschlag gebeten. Danach heißt es „Schreibe einen Empfang im Fahrzeug zur Inspektion gesehen werden“, zuletzt, „Halten Sie Ihre Quittung“. Da wir uns im Kontext der scheinbar funktionsuntüchtigen Geräte im Kassenhäuschen keinen eindeutigen Reim darauf machen können, kehren wir um und folgen der Straße 20 Kilometer weiter in die landschaftliche Bedeutungslosigkeit. Irgendwann wird es dunkel. Wir fahren rechts ran, schlagen das Zelt auf und hüllen uns dick ein. Wildcampen ist eigentlich nur Alleinreisenden gestattet und diese Klasse Mensch überschreiten wir gerade um genau eine Person. Doch wer sollte sich darum scheren. Hier ist ja niemand.

Dienstag

Es ist zu kalt um gemütlich liegen zu bleiben. Einige Kilometer weiter soll es einen mittleren Gipfel geben, der kletternd zu erklimmen ist. Das klingt nach Bewegung und Wärme, also steigen wir ins Auto und fahren eine Weile. Der Berg scheint ein beliebtes Ausflugsziel zu sein und der schmale Aufstieg erlaubt selten zu überholen. Zurück versuchen wir es über den nördlichen Steilhang, in der Hoffnung, einen durchgehenden Weg nach unten zu finden. Das gelingt, auch wenn wir so die doppelte Zeit brauchen. Abends parken wir am Ufer eines hoch gelegenen Sees, der von schneebedeckten Bergen umstanden ist und dennoch genug Wärme aufgenommen hat, um als Schlafplatz für die Nacht zu dienen. Ein Wasserflugzeug startet etwas entfernt in die untergehende Sonne hinein. Ich finde genug Zeit, um meine Lektüre zu beenden, bevor die Heimfahrt über Oslo, Göteborg, Kopenhagen und Hamburg beginnt. Heute gibt es Reis.

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