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Schachmatt
Dunkel Hell

Schachmatt

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  • Schwarz und Weiß. Tod oder Leben. Rücksichtslos reitet das schwarze Ross einen Bauern nieder. Ein weiteres Opfer. Die weißen Truppen sind in Bedrängnis, können sich nicht mehr halten. Der König fällt. Schachmatt.

Lena lässt sich in den weiß lackierten Holzstuhl am Rand des langen Krankenhausganges zurückfallen. „Oh Mann“, seufzt die 27-Jährige, „ich habe schon wieder verloren.“ Ihre Mutter lächelt ihr aufmunternd zu. „Irgendwann wirst Du mich auch wieder schlagen, keine Sorge.“ Mit der rechten Hand sammelt sie den weißen König vom Boden auf. Lena hat ihn aus Frust über ihre Niederlage so fest umgestoßen, dass er vom Tisch gefallen ist. „Vielleicht. Wenn mir so viel Zeit bleibt“, antwortet sie. Die Mutter schweigt. Ihre Finger schließen sich fest um die weiße Spielfigur.

Spuren des Weges

Normalerweise ist Lena gut im Schach. Viel besser als ihre Mutter. Doch seit Wochen ist sie ständig müde. Sie hat kaum noch Appetit und isst zu wenig. Dazu kommen die vielen Medikamente. Lena hat AML, Akute Myeloische Leukämie. Blutkrebs. Seit mehreren Wochen ist sie deshalb im Krankenhaus. Die Diagnose bekam sie bereits vor Monaten. Ihr Gesicht wirkt blass und ausgezehrt, wie nach einem mehrtägigen Gewaltmarsch ohne Schlaf. Dunkle Ringe haben sich unter ihre Augen gegraben. Auch das einst volle goldblonde Haar ist verschwunden. Spuren des Weges, der hinter ihr liegt: Während der Chemotherapie wohnt sie Zuhause. Nur alle paar Tage muss sie ins Krankenhaus, dort bekommt sie verschiedene Zytostatika verabreicht. Diese sollen die Teilung und das Wachstum der schädlichen Krebszellen hemmen. „Die Chancen stehen gut. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Lena es schafft“, sagen die Ärzte am ersten Tag der Behandlung. Doch die Medikamente allein reichen nicht aus. Immer wieder windet sich Lena in Fieberkrämpfen. Innerhalb von drei Wochen verliert sie mehrere Kilo Körpergewicht. Den Großteil des Tages schläft sie. In den wenigen wachen Stunden ist sie mürrisch und klagt über Kopfschmerzen. Der Kampf gegen den Krebs kostet ihren Körper Energie, doch essen will sie nicht. „Allein bei dem Gedanken wird mir schlecht“, jammert sie und schlägt ihrer Mutter das Essen aus der Hand, sobald diese ihr einen Teller bringt. So fallen mal Kekse, mal dunkles Brot, mal Erdbeeren zu Boden. Sogar die in kleine Schiffchen geschnittenen Apfelstücke, die Lena sonst so gerne mag. Die Mutter nimmt es jedes Mal schweigend hin. Ihre Tochter soll das Gefühl haben, die Kontrolle zu behalten. Lena bekommt eine Infusion, wird künstlich ernährt. „Sie ist eine junge und kräftige Frau. Mit einer Knochenmarkspende ist es noch immer gut möglich, dass sie es schafft. Die Chancen liegen bei mindestens 25, vielleicht sogar 50 Prozent“, sagen die Ärzte. Lena hat Glück, schon nach einigen Tagen findet sich ein geeigneter Spender im Freundeskreis der Familie. Es folgt die Verlegung ins Krankenhaus. Die Operation. Dann das Warten.

Alles wird wieder gut. Jetzt geht es wieder bergauf. Diese beiden Sätze sind das Mantra von Lenas Mutter während dieser Zeit. Sie spricht sie jeden Abend vor dem Einschlafen. Jeden Morgen vor dem Aufstehen. Jedes Mal in Gedanken, wenn sie die Wange ihrer Tochter streichelt und ihr verspricht, dass sie wieder gesund werden wird. Vom Vater kommt auch in dieser Zeit keine Unterstützung. Er wollte kein Kind und drängte Lenas Mutter während der Schwangerschaft dazu, abzutreiben. Als die sich weigerte, verließ er sie. „Dann ist das dein Kind, nicht meines. Schau, wie du damit zurechtkommst“, erinnert sich Lenas Mutter an seine Abschiedsworte.

Schweigen, Tag und Nacht

Drei Tage nach der Operation bekommt Lena wieder Appetit, fängt an zu essen. Alles wird wieder gut. Jetzt geht es wieder bergauf. Wange streicheln zum Abschied. Nach fünf Tagen stützt sie sich auf Krücken und unternimmt mit ihrer Mutter erste kleine Spaziergänge um das Krankenhaus. Alles wird wieder gut. Einschlafen. Jetzt geht es wieder bergauf. Aufstehen. Jeden Tag werden die Spaziergänge ein klein wenig länger. Die Hoffnung größer. Eines Morgens klingelt das Mobiltelefon der Mutter. Es sind die Ärzte. „Lena hat einen Rückfall.“ Es ist der erste Tag seit Wochen, an dem Lenas Mutter vergisst, ihr Mantra aufzusagen. Zum Krankenhaus sind es mit dem Auto normalerweise 20 Fahrminuten, an diesem Morgen braucht sie fast eine Stunde. Immer wieder macht Lenas Mutter kurze Pausen am Straßenrand, weil ihre Hände so sehr zittern. Am Krankenhaus angekommen, wird sie in ein Sprechzimmer gebeten. „Der Körper ihrer Tochter hat angefangen, die gespendeten Stammzellen abzustoßen. Sie müssen jetzt sehr stark sein. Für ihre Tochter. Sterbende Menschen brauchen die Stärke ihrer Angehörigen“, sagen die Ärzte.

Noch am selben Tag wird Lena als palliativ eingestuft, wenige Tage später auf die entsprechende Station verlegt. Vierter Stock. Zimmer 211. Lena spricht kein Wort. Ignoriert Ärzte, Schwestern, sieht sogar ihre Mutter kaum an. Die lässt sich krankschreiben, weilt Tag und Nacht am Bett ihrer Tochter. Lena schläft: Tränen. Lena ist wach: Scherze, Geschichten, Fragen. Die Antwort ist Schweigen, Tag und Nacht. Am fünften Tag hält es die Mutter schließlich nicht mehr aus. Zumindest für eine Nacht muss sie flüchten. Vor dem Schweigen. Vor dem Tod. Vor Zimmer 211. Sie übernachtet bei einer Freundin. Als Lenas Mutter am nächsten Tag um sieben Uhr das Zimmer ihrer Tochter betritt, schläft diese noch. Auf ihrem Nachttisch liegt jetzt ein Schachbrett. Alle Figuren befinden sich in Grundaufstellung. Nur ein weißer Bauer ist bereits zwei Felder auf E4 vorgerückt. Lenas Standard-Eröffnungszug. Alles wird wieder gut. Jetzt geht es wieder bergauf. Wange streicheln, Lena wacht auf. Noch immer Schweigen. Schwarzer Bauer auf C5. Einen ganzen Tag lang spielen Mutter und Tochter wortlos vor sich hin. Am Ende heißt es Schachmatt. Der schwarze König fällt. „Es ist wie eine Schlacht. Wie der Kampf gegen den Krebs. Aber hier gewinne ich“, sagt Lena und lächelt zögerlich. „Keine Schlacht. Durch dieses Spiel gewinnen wir beide“, antwortet ihre Mutter. Es ist der erste Wortwechsel seit sechs Tagen.

Der König fällt

In den folgenden Tagen spielen sie jeden Tag mehrere Partien. Verlegen ihren Spielort von Zimmer 211 in den langen und lichtdurchfluteten Flur. Nur wenn eine brennende Kerze aufgestellt wird, ziehen sie sich wieder zurück. Es ist das Symbol für den Tod eines Patienten der Palliativstation. Die ersten vier Spieltage lässt Lena ihrer Mutter keine Chance. Der schwarze König fällt ein ums andere Mal. Schachmatt. Am fünften Tag spielen sie nur eine Partie, am sechsten bleibt das Brett unberührt. Lena hat hohes Fieber, auch ihre Kopfschmerzen sind wieder stärker geworden. Schmerzmittel. Schlaftabletten. Trotz Fieberkrämpfen will Lena am siebten Tag weiterspielen. „Wir beide gewinnen“, sagt sie. Die Mutter nickt, Tränen in den Augen. Für einen Zug braucht Lena jetzt dreimal so lange wie vorher. Mit jedem Spiel verliert sie mehr Figuren. Weißer Turm schlägt schwarze Dame auf A7. Schachmatt. Wieder fällt der schwarze König. Knapp diesmal. Achter Spieltag: Fieber. Kopfschmerzen. Schlaftabletten. Weiß und Schwarz haben fast gleich viele Figuren verloren. Schwarz macht seinen Zug. Wütend wirft Lena das Spielbrett mit ihrer linken Hand vom Tisch. Klappernd fallen die Holzfiguren auf den Boden des Flurs. „Du hättest mich gerade matt setzen können, und das weißt du genau! Spiel vernünftig mit mir, oder hast du mich schon aufgegeben?“, ruft sie und steht auf. Schleppt sich zurück in Zimmer 211. „Wenn du mich nicht ernstnehmen kannst, dann lass mich allein“, sagt sie und schließt die Tür. Ihre Mutter sammelt die Figuren auf und stellt sie wieder auf das Brett.

Tränen. In den nächsten Tagen klagt Lena oft über heftige Kopfschmerzen. Schmerzmittel. Schlaftabletten. Schwarzer Läufer auf A4. Schachmatt. Der weiße König fällt zum ersten Mal. Die dunklen Ränder unter Lenas Augen werden mit jedem Tag tiefer. Die Wangenknochen beginnen sich in ihrem farblosen Gesicht abzuzeichnen. Wie ihre Haut verblasst auch Lenas Sieges-strähne im Schach. „Irgendwann wirst du mich wieder schlagen“, sagt ihre Mutter nach einer ganzen Reihe von schwarzen Siegen. „Vielleicht“, antwortet Lena. „Wenn mir so viel Zeit bleibt.“ Die Tage verstreichen. Lenas Kraft und Konzentration nehmen immer weiter ab. Mutter und Tochter spielen nur noch eine Partie am Tag. Schmerzmittel. Schlaftabletten. Am 27. Juni steht die Tochter das erste Mal seit mehr als einer Woche kurz davor, ihre Mutter zu besiegen. Beide schwarzen Läufer und die schwarze Dame sind geschlagen. Weiß hat noch alle Schlüsselfiguren auf dem Brett. Doch Lena fehlt die Kraft, die Partie zu Ende zu bringen. Die Figuren lassen beide für den nächsten Tag aufgebaut. Es ist fünf Uhr, als Lenas Mutter an das Spielbrett zurückkehrt. Sanft legt sie den schwarzen König auf das Brett. „Schachmatt“, flüstert sie. „Du hast gewonnen, mein Schatz.“ Vor Zimmer 211 brennt eine Kerze.

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